MedienScreen # 17 [Was von Ultra übrig bleibt – ein Szenario]

[Fundstück] Andrej Reisin, “Ultras: Wer mit dem Feuer spielt“, Publikative.org, 11. März 2012 –

(…) Innerhalb kürzester Zeit ist Ultra beinahe zu einer Art Staatsfeind avanciert, mindestens aber zur scheinbar größten Gefahr für die Sicherheit und Attraktivität des Profifußballs in Deutschland und Europa. Die Mahner, Warner, Prediger und Scharfmacher wider die Ultras beschwören jedoch Phänomene herauf, die aus den Kurven längst verdrängt schienen. Denn was nach Ultra kommen könnte, wollen viele offenbar weder sehen noch wahrhaben …

(…) Ohne jeden Zweifel hat das Aufkommen der Ultra-Bewegung ab Ende der Neunziger entscheidend dazu beigetragen, rechten Hools und Nazi-Schlägern die Dominanz in den Kurven zu nehmen, die sie bis dahin ebenso zweifellos hatten. Dass Fankultur heute weitgehend bunt statt braun ist, ist auch das Verdienst vieler, vieler Ultragruppen, die sich ausgehend vom Grundgedanken, dass der Support für den Verein im Mittelpunkt steht, nach und nach von Rassismus und Diskriminierung abgegrenzt haben. In vielen Städten und in vielen Stadien sind sie heute deshalb die Träger einer progressiven und bunten Fußballkultur, zu der aus ihrer Sicht eben auch Pyrotechnik gehören kann – neben der Gewaltbereitschaft sicherlich der momentan am heißesten umstrittene Punkt (…)

(…) Es wäre deshalb dingend geboten, verschiedene Themen endlich auch getrennt voneinander zu verhandeln – und nicht permanent in hysterischem Geschrei alles in einen Topf zu werfen, nur weil man mal wieder keinen Aufmacher und die Deutsche Polizeigewerkschaft noch nicht genug Resonanzraum für ihre Forderungen gefunden hat: Das derzeit an jedem Wochenende verstärkt zu beobachtende Abbrennen von Pyrotechnik hat den einfachen Grund, dass die Ultras DFB und DFL unmissverständlich deutlich machen wollen, dass der Abbruch eines Dialogs nur dazu führt, dass dann eben unkontrolliert überall gezündelt wird. Die Message ist ganz klar: “Hier sind wir, hier bleiben wir, wir machen, was wir wollen, Ihr könnt uns nicht verbieten!“ (…)

(…) Letzteres ist allerdings ein fataler Irrtum: Die Ultras können und werden den Krieg mit den Vereinen und Verbänden und vor allem mit der Polizei nicht gewinnen. Mit und zu Recht wird der Staat sein Gewaltmonopol durchsetzen, denn in der Tat kann kein demokratisch-zivilgesellschaftlich verfasstes Gemeinwesen dauerhaft dabei zusehen, wie eine gewisse Anzahl zumeist junger Männer für sich selbst entscheidet, wann sie Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer Ziele für richtig hält. Aber: Die klügeren Ultra-Gruppen haben dies längst erkannt. Nicht umsonst versuchen sie, sich innerhalb der Vereinsgremien Gehör zu verschaffen, nicht ohne Grund starteten sie eine Dialog-Initiative über Pyrotechnik, nicht aus Gewaltverherrlichung beteiligen sie sich an Fankongressen und ähnlichen Veranstaltungen (…)

(…) Wer diesen durchaus demokratischen Partizipationsversuchen immer wieder nur die Tür ins Gesicht und den Knüppel hinterher schlägt, darf sich nicht wundern, wenn er ausgerechnet die radikalsten und gewaltbereitesten Kräfte fördert – und damit exakt die Zustände heraufbeschwört, die vermeintlich bekämpft werden sollen. Denn auch, wer die jugendlicher Lust an der Revolte in Ultra-Kurven ausleben will, wird sich überlegen, ob Stadionverbote, Strafbefehle und horrende Schadenersatzforderungen den ganzen Spaß wert sind. Übrig bleiben werden bei der “brutalst möglichen“ Repression, wie sie von Scharfmachern gerne gefordert wird, daher vor allem diejenigen, die eh nichts zu verlieren haben – und denen deswegen alles scheißegal ist – Knast inklusive. Ein gefährliches Spiel mit dem Feuer – nur genau anders herum, als immer propagiert wird (…)

(…) Eine Lösung des Gewaltproblems ist deswegen schlechterdings nicht gegen die Ultras, sondern nur mit ihnen möglich. Denn die Alternative zu den Ultras könnte weitaus schlimmer sein. Wer die Repressionsschraube gegen die Ultras immer weiter zuzieht, läuft daher massiv Gefahr, ungewollt ganz anderen Kandidaten neue Spielfelder zu eröffnen, deren Zeit in der Kurve schon vorbei zu sein schien. Wer Gespräche abbricht und behauptet, diese hätten nie stattgefunden, verschafft denjenigen Stumpfis in den Stadien neues Gehör, die eh schon immer wussten, dass man Probleme nur mit dicken Armen, Alkohol und einer ordentlichen Portion Hass lösen kann. Wer immer mehr und immer öfter Pfefferspray einsetzt, wird die Anzahl der dumpfen “ACAB“-Gröler nicht verkleinern. Und wer ganze Gruppen mit Stadienverboten und ähnlichen Maßnahmen belegt, eröffnet die Räume, in denen rechte Gewaltgangs neue Spielfelder finden (…)

[Dieser Beitrag wurde am 21. März 2012 bei Ostfussball.com publiziert.]