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Ben Becker in der Dresdner Lukaskirche: Irgendwer hat ihn verraten

Es geht viel um Verrat an diesem Abend. Geschichte spielt eine Rolle. Religion sowieso. Der Aufführungsort scheint gut gewählt. Als Bühne ist das Gotteshaus am Lukasplatz in Dresden bereitet. Die Titelung des Programms provoziert – “Ich, Judas – ’Einer unter euch wird mich verraten’“. Erwartung. Der Künstler ist nicht irgendwer. Ben Becker. Ein Typ für entweder oder. Es gibt nicht viele wie ihn.

Und die Erwartungen werden erfüllt. Von Becker. Vielleicht sogar übertroffen. Für jene, die ihn uneingeschränkt genießen können.

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(Die ihr eintretet … à la Dante Alighieri – Foto: O.M.)

Denn es begab sich, dass Plätze der ersten Preiskategorie nicht etwa vorn an der Bühne des Theatergeschehens, sondern auf den Seitenemporen der Kirche zu finden waren. Und diese Emporen konnte augenscheinlich erklimmen wer wollte. Woraufhin sich Kulturbürgerinnen und Kulturbürger auf Plätzen fläzten, die der Himmel ihnen geboten hatte. Oder war es der Platzanweiser? Eben jener, der den dann Nachgekommenen zwei, drei, vier Stühlchen anbot? Im toten Winkel zur Bühne. Aus dem später Kulturmenschen ihre Leiber auf und fast über die steinerne Balustrade schoben, um einen Blick vom künstlerischen Geschehen erhaschen zu können. Der Platzanweiser hat Schuld? Eben jener, der Treppenstufen freihalten sollte? Solche mit Bühnenblick, die dann von quasi sitzplatzlosen Gesellinnen und Gesellen zwangsokkupiert wurden? Armer Platzanweiser.

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(Die Botschaft hör ich wohl … à la Goethe – Foto: O.M.)

Verräter? Ja, irgendwer war nicht in der Lage, Plätze entsprechend zu kennzeichnen, nummerierend etwa noch dazu. Ja, irgendwer hat fleißig auch Karten für Sitzplätze hinter herrlich blickdichten Steinsäulen verkauft. Monumental. Das System ist der Verräter? Fuck the system. Wenigstens ist die Akkustik in der Dresdner Lukaskirche nicht die schlechteste. Danke dafür, Georg Weidenbach.

Und Ben Becker? Trifft es grandios? Furios? Subjektiv formuliert, ohne anderweitige Bühnenvergleiche. Objektiv verglichen mit Auftritten im Film und Fernsehen. Es gibt nicht mehr viele wie ihn.

Weiß gewandet begibt sich Becker auf seine Reise. Vom Matthäus-Evangelium über Amos Oz’ Roman “Judas“ hin zur “Verteidigungsrede des Judas Ischariot“ von Walter Jens. Ohne die Judastat – im Auftrag Gottes? – keine Kreuzigung, keine Auferstehung, kein Christentum, keine Pogrome, keine Lager, kein Gas? Weltfrieden?

“Beckers Idee, Judas nicht als Bösewicht, sondern als intellektuellen Zweifler oder wahren Liebenden darzustellen, ist allerdings kein neues Motiv“, resümierte Gunda Bartels am 21. November 2015 auf der Online-Präsenz vom Tagesspiegel nach einer Becker’schen “Sakralrezitation“ im Berliner Dom.

Aber wie Ben Becker diese versuchte Rehabilitation des so betitelten größten Verräters der Weltgeschichte zelebriert – Chapeau! Subjektiv betrachtet. Oder besser: Mehr gehört als gesehen. In der Lukaskirche zu Dresden.

Ständig mit seiner markanten Stimme spielend, bleibt Becker zu Beginn gestenarm. Liest. Um sich dann später, frei deklamierend, als Judas regelrecht in Rage zu steigern. Stimmlich und schauspielerisch. Vom Boden der Kirchenbühne auf einen dargestellten Altartisch. Himself furiosus.

Applaus. Stehend. Auch von jenen, die zuvor genusssehend sitzen konnten. Ebenso von Kulturbürgerinnen und Kulturbürgern, die – auf vom Himmel gegebenen Plätzen fläzend – trotz Hinweisen sich nicht zu blöd waren, ihre Smartphones dokumentieren zu lassen. Fast wie im K-Block bei Dynamo. Whatever.

Applaus. Und ein ergriffener Becker. Den Ovationen gerührt dankend. Großes Schauspiel. Oder mehr. Gäbe es noch lange einen wie ihn.

Was bleibt? Erhobene Daumen für Ben Becker. Empor gestreckter Mittelfinger für das Verräterlein im Kartensystem. Und die Feststellung: Wer an einem Montagabend in Dresden zu Ben Becker geht, geht nicht zu Pegida. Venceremos!

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Gewagter Ausflug nach “Pegidistan“

Ein Büchlein, das im Stil eines nicht gerade unbekannten Reiseführers daherkommt. Ganze 106 Seiten dünn. Die es dann teilweise wahrlich in sich haben. Bei den Beschreibungen von “Reisen im Land hinter der Mauer“.

Nein, es ist kein geschichtliches Déjà-vu in der Matrix. “Kuba den Kubanern, Indien den Indianern“ bleibt weiterhin Walter Ulbricht zugeschrieben. Historisch ist das Schriftwerk mithin schon. Ansatzweise jedenfalls. In seiner Betrachtung einer mehr oder weniger fiktiven, all zu nahen, Zukunft. Aus der Vergangenheit in der Gegenwart begründet. Wer wird in diesen Tagen, Wochen und Monaten ’Dresden’ nur mit ’Dynamo’, ’Sachsen’ lediglich mit ’Eierschecke’ assoziieren können …

“Armes Deutschland!!!!“ prangt vor dem Beginn der Reise, die Uwe Leuthold durchaus sprachgewaltig über einhundert Kapitel lang vor des Lesers Augen in sächsischer Ungemütlichkeit vorüber spazieren lässt. Denn “Pegidistan bedeutet in der Landessprache soviel wie ’Land des ewigen Spaziergangs’“ und dieser kleine Reiseführer “gibt Tipps, wie man in der fremdenfeindlichsten Region zwischen Polen und Frankreich seinen Urlaub zu einem unvergesslichen Erlebnis macht und überlebt“.

Soviel satirischer Sarkasmus darf schon mal sein auf der Tour durch die allgegenwärtige “Pegidische Abendland-Republik Dresden (PRD)“. Gewissermaßen realpolitisch betrachtet.

Einen seiner Höhepunkte hat das Büchlein gleich zu Beginn. In der geografischen Einordnung der PRD mit ihren vier Regionen, “die jede für sich schon eine Reise wert sind“. Als da neben dem eigentlichen “Tal der Ahnungslosen“ wären “Die Elfenbeinturmhänge“, “Die Neustadt“, “Das Schönfärber Hochland“ und nicht zuletzt “Das Hinterland“. Kostprobe?

“… Wenn ein Ort aussieht, als hätten Asylanten ihn zerstört, handelt es sich um Heidenau. Architektonisch erinnert es an eine Raststätte für Sondermüllfahrzeuge. Bedeutendstes Gebäude und gleichzeitig größter Arbeitgeber ist die zentrale Pack-Station.

Freital besticht durch das spröde Flair eines ost-europäischen Straßenstrichs, dem die Nutten abhanden gekommen sind. Berühmt ist die Ortschaft immerhin für die Gedenkstätte ’Grab der unbekannten Weltoffenheit’ …

Von Pirna eröffnet sich der Blick auf die beeindruckenden Felsmassive des Elb-SA-Stein-Gebirges und lenkt ein wenig davon ab, wie die Stadt im braunen Sumpf vermodert …“

Wobei es dem Autor gleichwohl wichtig ist, potenziellen Besuchern ländliche Strukturen zu bebildern, die nicht einmal bodenständig Einheimische wahrzunehmen in der Lage scheinen.

“… Ethisch und moralisch bilden die drei Städte als Hinterland eine Einheit. Die Bevölkerung ist äußerst konservativ. In vielen Tälern und Wäldern wird einer primitiven Urform des Pegidismus – dem Faschismus – gehuldigt. Fremden wird empfohlen, sich in diesen Regionen nur mit einer Führerfigur blicken zu lassen …“

Wohlan denn, sage niemand, er hätte es nicht gewusst, sie wäre nicht gewarnt gewesen. Vor Pegidistan – oder diesem Büchlein.

“… Nur wenige Menschen wagten bisher, was unser Team aus befangenen Überlebenskünstlern und hartnäckigen Schubladendenkern getan hat: Einen Fuß nach Pegidistan zu setzen …“ (Klappentext).

Ein literarischer Bericht à la Goethe ist es indes nicht geworden. Sei’s drum. Lesen bildet. Reisen ebenso. Und wer auf den Gutschein für die angepriesenen fünf Euro Rabatt bei Fahnen Friedrich aus ist, muss sich das Leuthold’sche Werk ohnehin kaufen.

Fahnen Friedrich? Auf nach Pegidistan …

leuthold_pegidistanPegidistan: Reisen im Land hinter der Mauer
Uwe Leuthold
Im Selbstverlag, Dresden 2016

Uwe Leuthold wurde 1976 geboren und lebt in der Dresdner Neustadt und in Berlin. Er hat Politikwissenschaft studiert, arbeitet als freier Autor und Journalist. Bei dem Namen handelt es sich um ein Pseudonym (neustadt-ticker.de, 20. Februar 2016).

Und immer wieder grüßt der Spuckelch [error left]

MedienScreen # 93 [Satire, Satire über alles …]

[Fundstück] Tim Wolff, “Wie es noch schlimmer werden könnte – Fall Böhmermann: Die Grenzen sind erreicht“, n-tv.de, 11. April 2016 –

(…) Denn wenn eines denkende und fühlende Menschen weltweit wissen: Deutsche sind gefährlich, ja erfahrungsgemäß tödlich, wenn sie ernst machen. Und eine Verbindung aus deutscher Solidarität und dem, was man hierzulande allgemein für Humor und Komik hält, wird in seiner Ernsthaftigkeit, Destruktivität und Gefährlichkeit nur von einer anderen deutschen Spezialität überboten: echten Waffen, guten deutschen Panzern und Schießgewehren. Um unser aller Frieden willen: Nichts von all dem sollte exportiert werden!

MedienScreen # 92 [Die Brücken am virtuellen Fluss]

[Fundstück] Sibylle Berg, “Selbstvermarktung: Wer auffällt, ist out“, SPIEGEL ONLINE, 9. April 2016 –

(…) Es ist ein Fluch, Angehörige der Brücken-Generation zu sein. Die vor und nach Social Media. Immer zu wissen, wie es früher war, auch nicht besser, immer zu wissen wie unglaublich praktisch soziale Medien sind, und wie unglaublich dämlich zugleich. Sich zu fragen, wie es eigentlich um das Wissen bestellt ist, wenn Wissen für die meisten Wikipedia bedeutet, die als Wissen Zeitungen in Fußnoten auflistet, die wiederum von Wikipedia abschreiben (…)