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Blickfang Ultra: Saisonrückblick 2013/14

Zum zweiten Mal nach 2013 präsentiert sich das aktuell saisonrückblickende Heft von Blickfang Ultra (BFU) im auffälligen A4-Format – insgesamt viermalig erschien nunmehr bereits diese durchaus aufwendig gestaltete Print-Publikation.

“(…) Der Aufwand, der hinter einem solchen Projekt steckt, ist wirklich enorm und motivieren kann phasenweise einzig und allein der Blick auf das letztjährige Resultat. In der Tat war ich selten zuvor so stolz auf ein Machwerk wie dieses. Und genau aus diesem Grund verwundert es doch etwas, dass die Bereitschaft zur Mithilfe bei einigen Gruppen beständig zu sinken scheint. Waren es in der vergangenen Saison noch 46 Gruppen, so sind wir aktuell bei nur noch 41. Einige sind neu hinzugekommen, andere abgesprungen (…)“ [Mirko Otto, “Salut!“ im Heft].

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Beim saisonalen 2010/11’er Rückblick präsentierten sich sieben und für die Saison 2011/12 acht Ultra-Gruppen aus dem ostdeutschen Raum in den BFU-Heften, 2012/13 gaben neun ostdeutsche Gruppierungen ihr Statement ab. Im BFU-Saisonrückblick 2013/14 kommen die folgenden zehn alphabetisch aufgelisteten Vertretungen zur Wort und Bild –

BLOCK U # 1. FC Magdeburg

“Das Gefühl, nach langer Zeit einmal wieder ernsthaft konkurrieren zu können, war Balsam für die gescholtenen Seelen der Clubfans.“

ERFORDIA ULTRAS # FC Rot-Weiß Erfurt

“Am Ende setzte die Ernüchterung ein – Platz zehn in der Liga und eine zerschmetternde Derbyniederlage im Pokalfinale warfen alles, was sich Verein und Fans das Jahr über gemeinsam aufgebaut hatten, über einen Haufen.“

HORDA AZZURO # FC Carl Zeiss Jena

“Plötzlich wurde offensichtlich, was in den Tagen seit der MV mehr oder minder verdrängt wurde. Die Stimmung in den eigenen vier Gruppenwänden war an einem Jahrhunderttief angekommen, nicht Wenigen war plötzlich zum Heulen zu Mute.“

RED KAOS 97 # FSV Zwickau

“Abgesehen von den steten Fahrten nach Berlin im gefühlten Zwei-Wochen-Takt, konnte nun endlich mal wieder in ’gute Gegner – schlechte Gegner’ unterschieden werden und so waren es vor allem die ’Bumskicks’, einstmals unsere Stärke, die jetzt für gelangweilte Gesichter und daraus resultierende Lethargie im Block sorgten.“

SAALEFRONT # Hallescher FC

“Engagement ist im Regelfall eine eher naturgegebene Sache, die die Leute selbst mitbringen müssen … früher oder später trennt sich eben doch die Spreu vom Weizen, so zeigt es uns die Erfahrung aus vielen Jahren Ultraszene.“

ULTRAS BFC # BFC Dynamo

“Das Ziel war ein gemeinsamer Block mit einer entsprechenden stimmlichen Stärke. Wir wollten gemeinsam den in unseren Augen ausbaufähigen Support bei den Heimspielen der letzten Jahre verbessern. Differenzen und Bedenken wurden aus dem Weg geräumt und der eigene Schatten übersprungen.“

ULTRAS CHEMNITZ # Chemnitzer FC

“Ja, auch die primitiven, rechtsoffenen, dauerbesoffenen und irgendwie im Jahr 2002 feststeckenden Ultras Chemnitz (sind jetzt alle Klischees angesprochen worden?) blicken wieder zurück auf die letzte Saison und während halb Ultra-Deutschland gelangweilt weiterblättert, freut sich der Rest auf die erquickenden Erlebnisse von Asi-Ronny und seinen 40 Säufern. Nun gut, den Gefallen wollen wir euch tun, also legen wir mal – wie immer – direkt mit einem Blick auf das sportliche Geschehen rund um den Chemnitzer FC los.“

ULTRAS DYNAMO # SG Dynamo Dresden

“Abgesehen von einigen Ausreißern nach oben war es eine durchwachsene Saison. Zwar behielt der K-Block bei den meisten Spielen die Oberhand in Sachen Lautstärke und Geschlossenheit, es darf aber nicht der Anspruch sein, sich am Gegner zu messen.“

ULTRAS GERA 99 # BSG Wismut Gera

“15 Jahre Ultras Gera: ein kleines, großes Jubiläum, und das (bisher) ganz ohne die gebührenden Feierlichkeiten. Was stimmt da nicht in Gera und bei UG 99?“

WUHLESYNDIKAT # 1. FC Union Berlin

“Wir werden uns in Zukunft wohl noch intensiver mit dem Thema Vereinsarbeit auseinandersetzen müssen, um die geschaffenen Werte und die Fankultur des 1. FC Union zu bewahren.“

So weit, so gut, betrachtet man die jährlich steigende Beteiligung aus ostdeutscher Sicht – plus Eins, plus Eins, plus Eins – am BFU-Projekt.

Gleichwohl wird seitens der Herausgeber, wie allerdings fast schon bei jeder Veröffentlichung der Saisonrückblicke, erneut aktuell wiederum die Frage gestellt, “ob es zukünftig überhaupt noch Sinn macht, das Projekt auch im kommenden Sommer zu stemmen. Aus derzeitiger Sicht natürlich noch gar nicht zu beantworten, mal schauen und abwarten, was die Zukunft so bringt. Jetzt aufzugeben und dem schnelllebigen Internet das Feld zu überlassen, wäre aber ja auch eigentlich doof und entspricht nicht dem Naturell eines Ultras …“ [Mirko Otto, “Salut!“ im Heft].

Blickfang Ultra Saisonrückblick 2013/14 ist zwar schon Ende Juli dieses Jahres veröffentlicht worden, ein Blick in die Publikation lohnt sich aber ganzjährig – und dokumentarisch darüber hinaus sowieso. Die aktuelle Broschüre ist bei einem Händler des eigenen Vertrauens durchaus noch erhältlich. Schade, wenn es nächstsaisonal nicht mehr so sein sollte.

[Dieser Artikel wurde am 8. Oktober 2014 bei Ostfussball.com veröffentlicht.]

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Ultras: Nur Kurvenrebellen?

Kurz vor dem kalendarischen Jahresende sollte ein 2013 veröffentlichtes Büchlein mitnichten links liegen geblieben sein. Christoph Ruf’s “Kurvenrebellen“ wird auf erstaunlich vielen Ultra-Websites erwähnt und dortselbst teilweise auch beworben. Warum?

Weil der Mann ganz gut schreiben kann? Weil – neben anderen Büchern, Publikationen und aktuell bezüglichen Artikeln – schon allein sein “Occupy Sesame Street“ im 2012 erschienenen Buch “Ultras im Abseits?“ mehr als nur nebenbei lesenswert war?

Weil der Mann vielleicht Ahnung von der Materie hat? Weil der Mann sich durchaus auskennt rund um die Szenerie und fast alle Facetten detailgenau beschreibt? – Ja. Und das ist selten; inside des Boulevards sowieso, im sich seriös gebenden bundesdeutschen Fußball-Journalismus traurigerweise fast noch mehr als nur ausnahmsweise.

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(An der BAB 9, Sommer 2013 – Foto: O.M.)

In der Einleitung zu “Kurvenrebellen“ ist unter anderem zu lesen –

“(…) Doch erstaunlicherweise wird öffentlich weder die Kreativität der Ultras, ihr politisches Engagement noch ihr Engagement für den Verein öffentlich gewürdigt. Eine brennende Bengalfackel genügt zuweilen, um eine ganze Kaskade von Negativschlagzeilen über eine Szene auszuschütten, die bundesweit aus mehreren zehntausend Menschen bestehen dürfte (…)“

Weiterhin war Christoph Ruf “positiv überrascht, dass die allermeisten Szenen (…) bereit waren, sich gegenüber dem Angehörigen einer Berufsgruppe zu öffnen, aus deren Reihen allein im Jahre 2012 Verzerrungen und Unwahrheiten transportiert wurden, die eigentlich ein Fall für den Presserat sind“.

Ja, der fußballerische Journalismus in der Bundesrepublik Deutschland ist weit gekommen – journalistisch kaum noch vertretbare Grenzen anschnüffeln und diese dann gleichwohl pseudo interessiert oberflächig übertreten, what ever?

Da tut ein Buch wie “Kurvenrebellen“ fast schon wieder gut. Leider fehlt “Kurvenrebellen“ bei seiner erzählerischen Akribi ein Register im Anhang. Aber ansonsten ist das Teil schon lesenswert, für jemanden, der in Zusammenhängen hinterfragend lesen möchte –

“(…) Man mag einiges an den Ultras auszusetzen haben, vieles davon wird (…) genauso thematisiert wie all das, was die Ultra-Szene zur vielleicht faszinierendsten Jugend-Bewegung dieser Tage macht. Eines steht aber fest: Die Ultras sind die Besten ihrer Generation …“

Ja, lesen bildet, und auch ein Stadionbesuch bildet, vor allem auswärts. Erfahrungen, die Frau/Mann gemacht haben sollte, allerdings abseits der VIP-Bereiche. War Christoph Ruf in jenen geschützten Zonen? Wohl eher nicht, oder manchmal vielleicht auch. Sein Fokus ist direkter, so liest es sich jedenfalls. Und es liest sich zugegeben gut – für die, die es sowieso schon kennen.

Und eben dies ist auch ein Problem von Büchern wie “Kurvenrebellen“. Es wird wohl hauptsächlich von denen gelesen werden, die sowieso irgendwie dabei sind, Wochenende für Wochenende, Spieltag für Spieltag; egal auf welcher Seite der imaginären Barrikade.

Aber nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass es Bücher wie “Kurvenrebellen“ gibt. Denn möglicherweise bildet lesen ja wirklich, hier und da, vielleicht.

Danke, Christoph Ruf, für diesen weiteren journalistisch kurvenrebellischen Anlauf. Denn ein solcher ist immer noch besser als gar keiner.

* Christoph Ruf * Kurvenrebellen – Die Ultras – Einblicke in eine widersprüchliche Szene * Verlag Die Werkstatt

[Dieser Artikel wurde am 28. Dezember 2013 bei Ostfussball.com veröffentlicht.]

Blickfang Ultra: Rückblick auf die Saison 2012/13

“Mal sehen, ob wir in einem Jahr einen erneuten Versuch wagen“, war noch im letztjährlichen Saisonheft 2011/12 von Blickfang Ultra (BFU) durchaus etwas kryptisch zu lesen. Und die BFU-Redaktion hat es erneut gewagt und gebar nun schon vor einigen Wochen den mittlerweile bereits dritten Rückblick auf eine wie auch immer abgelaufene Saison.

Das äußerlich Augenfälligste ist der Wechsel des Heftes auf ein eher unhandliches A4-Format. Geschuldet war dies vordergründig allerdings der vorliegenden Materialfülle: “Hätten wir das alles jetzt auf A5 pressen wollen, ihr würdet wohl jetzt ein 600 Seiten dickes Buch in euren Händen halten“ [BFU]. Aber auf die inneren Werte kommt es an und die sind beileibe nicht von schlechten Eltern des Heftgeburtsvorganges.

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Nachdem sich beim saisonalen 2010/11’er Rückblick aus dem ostdeutschen Raum sieben und für die Saison 2011/12 acht Ultra-Gruppen in den BFU-Heften darstellten, sind es in der aktuellen Ausgabe die folgenden neun alphabetisch aufgelisteten Vertretungen –

  • BLOCK U # 1. FC Magdeburg
  • ERFORDIA ULTRAS # FC Rot-Weiß Erfurt
  • HORDA AZZURO # FC Carl Zeiss Jena
  • RED KAOS 97 # FSV Zwickau
  • SAALEFRONT # Hallescher FC
  • ULTRAS CHEMNITZ # Chemnitzer FC
  • ULTRAS DYNAMO # SG Dynamo Dresden
  • ULTRAS GERA 99 # BSG Wismut Gera
  • WUHLESYNDIKAT # 1. FC Union Berlin

Neu in einem BFU-Saisonrückblick sind die Ranking-Rubriken für Choreos und Zaunfahnen und last but not least eine dreiseitige Zeitstrahlübersicht von Juli 2012 bis Mai 2013. Darüber hinaus gibt es einen Streifzug in Wort und Bild durch 23 europäische Pokalendspiele. In gewohnt hoher Druckqualität wird das Heft mit rund 500 Fotografien abgerundet. Auf den 292 farbigen Seiten präsentieren insgesamt 47 bundesdeutsche Ultra-Gruppierungen ihre vorsaisonale Sicht der Dinge aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln.

“(…) Viel diskutiert haben wir auch intern, warum nun diese und jene Gruppe dabei sein darf, ob das überhaupt sinnvoll ist und wo man die Messlatte für eine Teilnahme eigentlich anzusetzen hat. Eine allgemeingültige Lösung gibt es nicht. Ich persönlich sehe es zumindest nicht als meine Aufgabe an, Richter darüber zu spielen, wer gut und schlecht ist. Das sollen andere machen. Ich merk selber immer mehr, wie mich dieses überhebliche Getue von manchen Gruppen oder auch Einzelpersonen nervt. Bezogen aufs Heft kannste eh machen was du willst, es wird sowieso immer wieder das Negative gesehen und alles schlecht geredet. Ich warte schon auf die Statements der Oberschlauen, die sich über die Texte von Gruppe XY lustig machen. Anstatt die positiven und schönen Seiten eines solchen Projektes zu sehen, oder auch die viele Arbeit die dahintersteckt, wird direkt draufgehauen und sich lustig gemacht. Mein Tipp an den Personenkreis: Hüpft mal hoch und schaut in eure 3. Reihe, was da für Leute stehen. Weisste bescheid, ne?! (…)“ [Vorwort]

Blickfang Ultra Saisonrückblick 2012/13 ist mit 7,90 Euro ausgepreist, gleichwohl bei einem Händler des eigenen Vertrauens nach wie vor erhältlich. Und: Lesen bildet …

[Dieser Artikel wurde am 1. Oktober 2013 bei Ostfussball.com veröffentlicht.]

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’Die Welt’ erklärt die ostdeutsche Provinz Dresden

Nein, als Posse ist das Schriftstück aus der Reihe “Ein paar Blitzbesuche in den deutschen Provinzen“ mitnichten deklariert, ebenso wenig als persönlich journalistische Kommentierung, aber eilfertig unter der Headline ’Kultur im Wahlkreis’ ankündigt – “Was gibt es dort zu sehen, zu lesen oder zu hören, wo die Spitzenkandidaten der Parteien antreten?“ Beispielsweise mit dem Flugzeug über Dresden einschwebend und die Stadt “von oben wie ein bürgerliches Paradies“ sehend?

Den Wahlkreis einer durchaus bekannten Linken-Politikerin kann der Überflieger aber “auch von unten aus betrachten, aus der Sicht ihrer Partei. Dann ist die eindrucksvollste Sehenswürdigkeit das Glücksgas-Stadion, malerisch gelegen zwischen Blüherpark und Großem Garten“.

Ja, der Aufgalopp ist mies und wird auch nicht unbedingt besser – befindet sich im weiteren Verlauf dann eher in einem quasi qualitativ freien Fall aus dem Überfliegerflugzeug nach ganz weit unten.

So empfiehlt ein für DIE WELT tätiger Michael Pilz den Besuch des Dresdner Stadions “wenn Dynamo Dresden auftritt und sich der Zweckbau vorwiegend mit Eingeborenen füllt“. ’Eingeborene’ liest sich gut – Chapeau!

An dieser Stelle erlauben wir uns dann aber doch erst einmal vorsichtshalber, kurz den Terminus ’Ostdeutsche Neger’ zu googlen, mit ungefähr 442.000 Ergebnissen in nur 0,33 Sekunden. ’Eingeborene Dresden’ kommt bei der Suche in ähnlicher Zeit auf rund 394.000 Fundstücke – erstaunlich, Herr Pilz; gut recherchiert! Aber wie schaut es mit ’Eingeborener ostdeutscher Neger’ aus?

Ach ja – “Wer ihre Stadt [also die der elbflorentinischen Ost-Sachsen-Eingeborenen-Neger] verstehen möchte, muss Veit Pätzug lesen“, meint Michael Pilz …

“Es sind Heldensagen aus der Zeit der DDR, der Wende und des Widerstands gegen den Westen. In den widerlichsten kommen Nazis vor und Mitmenschen zu Schaden.“

… bezieht sich allerdings dabei fast völlig orientierungslos und zudem auch noch hilflos scheinend auf Pätzug und unterschlägt mehr, als der geneigten Leserin oder dem geneigten Leser von Veit Pätzugs bisherigen Gesamt-Werken bekannt ist – eine reine Zumutung durch Meisterchen Pilz.

Ob es “Unter den Türmen von Dresden“ noch billiger geht? Oh ja, Michael Pilz scheint durchaus investigativ auf der Pirsch gewesen zu sein –

“… Verkürzt gesagt: Der Westfußball gehört den Geldgebern, der Ostfußball den Fans. Die haben ihn erhalten und Dynamo auch nach Meuselwitz begleitet. Gern erschrecken sie den Westen, indem sie sich aufführen wie Söldnerhorden und verwerfliche Parolen brüllen …“

Fast schon beängstigend, wie da jemand seine offenbar losen Latten am Zaun öffentlich so darstellt wie “Unter den Türmen von Dresden“.

Investigativer als investigativ schließt dann das Pamphlet. “(…) Im Stadion führt die linke ’Elb-Kaida’ ihre Massenchoreografien auf und sorgt für Feuerwerk. Empfehlenswert sind auch die Bismarck-Semmeln.“ – Nur wo im Rudolf-Harbig-Stadion gäbe es die aktuell noch? Und wenn, dann keinesfalls mit Ihnen, Herr Michael Pilz.

(…) Eh’ schwarzer Neger, des au’ noch (…) –

[Dieser Artikel wurde am 25. August 2013 bei Ostfussball.com veröffentlicht.]

MedienScreen # 24 [Sesamstraßen-Ultras?]

[Fundstück] Christoph Ruf: “Occupy Sesame Street“, in: “Ultras im Abseits? – Porträt einer verwegenen Fankultur“ [Martin Thein | Jannis Linkelmann (Hrsg.)], Verlag Die Werkstatt, Juli 2012 –

(…) Es wird derzeit viel gemauschelt und geraunt in der deutschen Ultraszene. Die Blicke im Block sind misstrauischer geworden, die Abgrenzungsrituale ausgeklügelter, die Codes geheimnisvoller, die Jünger jünger. So jung, dass manche Stirn beim kritischen Stirnrunzeln nicht einmal Falten wirft. Als Journalist muss man sowieso eher froh sein, wenn man auf gerunzelte Stirnen trifft. Die Szene unterstellt den Medien gerne einmal, dass sie eine Ansammlung sensationsgeiler, korrupter Polizeistaatsfanatiker seien, die Ultras pauschal aburteilen. Wie pauschal diese Medienkritik ist, merkt allerdings der ein oder andere. Auch im Umgang mit der Presse wird sich weisen, ob Abgrenzung oder Öffnung künftig das Leitmotiv sein wird.

Noch vor gar nicht allzu langer Zeit brachte die Szene endlich frischen Wind in die Kurven, die neugierig waren, und die deshalb Neugier weckte. Sollte es doch noch einmal so etwas geben wie eine Renaissance der kritischen Fanszene aus den 1990ern? Es sollte. Nur dass die Umarmungsstrategie der Fanveteranen schnell im Keim erstickt wurde. Denn weder die Aktionsformen noch die Kommunikationsmittel von damals waren die von heute. Und das war auch gut so. Oder doch nicht? Ist vielleicht doch nicht alles Neue per se sakrosankt? Es gibt Themen, in denen die Szene langen Atem bewiesen hat. “Pro 15:30“ (heute “Pro Fans“) hat mit seinem damaligen Kernanliegen nachhaltig das Bewusstsein der Fußballfreunde geprägt. Auch “Pyrotechnik legalisieren“ hat höchst professionell gearbeitet und so die manchmal sehr trägen Apparate von DFB und DFL ganz schön ins Schwitzen gebracht. Beides sind hervorragende Beispiele dafür, mit welcher Stringenz die heutige Fangeneration ihre Anliegen nach vorne bringen kann; die heute 40- bis 50-Jährigen haben damals noch oft aus Spaß an der Freude diskutiert. Und irgendwann konstatiert, dass sie nichts erreicht haben.

Und dennoch: Es bleibt der Verdacht, dass die Ultra-Bewegung in vielerlei Hinsicht letztlich nur ein Kind ihrer Zeit ist, in der einige mit bewundernswerter Ernsthaftigkeit Fananliegen vertreten. Und die Masse die Szenespielchen spielt. Not my generation: Heutzutage kommt Form vor Inhalt, das steht einmal fest.

Die Formalia jedenfalls stimmen in der Ultra-Szene. Der Capo erfüllt satzungskonform seine Capo-Pflichten, der Szene-Neuling trägt die Bierflaschen fort, die die Altvorderen ausgetrunken haben. In Studentenverbindungen und bei den Gebirgsjägern gelten die gleichen Gesetze. Doch selbst diese Institutionen wirken in ihrer Bräsigkeit manchmal geradezu erwachsen, wenn man ihre Riten mit dem heiligen Ernst vergleicht, den Ultras auf Kindereien verwenden (…)

Man kann sich stundenlang über die Gepflogenheiten der Sesame-Streetgangs amüsieren. Es ändert nichts an dem beklagenswerten Umstand, dass Dinge, die ernst gemeint sind, irgendwann auch ernst werden. Doch die Verselbständigung einst augenzwinkernder Szenerituale hat Folgen. Nicht nur für den Normalo-Fan, der ein blaues Auge mehr und einen Schal weniger hat. Heute wirkt die Ultraszene mancherorten dogmatischer als der Vatikan. Was nichts anderes bedeutet, als dass ihr das gleiche Schicksal wie dem Heiligen Stuhl drohen könnte. Massiver Mitgliederschwund und die intellektuelle Vergreisung.

Die Alternativen liegen allerdings auf der Hand. Es kommt darauf an, ob sich die Sub-Szene als Teil der gesamten Fanstruktur der Kurve begreift. Gerne auch als radikalerer, unerbittlicherer Teil. Aber eben als Teil eines größeren Ganzen. Als Gruppe, die sich Antennen nach außen bewahrt hat, anstatt nur noch zu funken. Das wäre ihr zu wünschen. Wahrscheinlicher scheint derzeit, dass der Trend zur Inzucht weitergeht und sich die Szene erbitterte Infights im eigenen Ghetto liefert, sich weiter radikalisiert und in gewalttätigen Räuber- und Gendarmspielen ergeht. Das wäre allein deshalb bedauerlich, weil Ultrà dann tatsächlich so autistisch würde, wie seine Gegner es schon lange sehen.

Es wird spannend sein zu beobachten, in welche Richtung die Reise der Ultras geht. Klar ist nur eines: Die Fronten verlaufen exakt so wie damals im Berliner “Kosmos“. Zwischen denen, die für Nachdenklichkeit werben, und denen, die sich von den echten Hooligans nur noch in einem Punkt unterscheiden: Die Hools in den 1980ern und 1990ern haben sich geprügelt, wenn sie das wollten. Es ist eben ein einförmig’ Ding um das Menschengeschlecht …

Die heutigen “Hooltras“ scheinen jedoch in ihrem tiefsten Inneren heilfroh zu sein, dass so oft die Polizei zwischen den Fronten steht, wenn zwei verfeindete Ultragruppen sich wie eine Horde Pavianmännchen beim Paarungsritual in Pose werfen (…) Längst sind beim Räuber- und Gendarm-Spiel für junge Erwachsene ein paar Tabus gefallen, an die sich noch vor zehn Jahren die allermeisten Ultras zwischen Rostock und Burghausen hielten (…)

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(Foto: O.M.)

(…) es sind Einzelfälle, die sich in den vergangenen Jahren so gehäuft haben, dass der Beobachter nicht mehr sicher sein kann, welcher der beiden Pole die Oberhand behalten wird. Der, der Rebellentum inhaltlich definiert. Oder der, der maximale mediale Aufregung für einen Beweis der eigenen Widerspenstigkeit hält. Und der dabei gar nicht merkt, wie sehr er auf die Mechanismen von exakt den Boulevardmedien hereingefallen ist, die man eigentlich einmal an der Nase herumführen wollte.

Aber geschenkt: Ultras sind meist noch sehr jung. Dumm sind sie allerdings nicht. Schon gar nicht in ihrer Kommerzkritik. Denn natürlich wissen auch Ultras, dass Sponsorengelder fließen müssen, um einen Bundesligaetat aufrechtzuerhalten (…)

Es mag zwar etwas skurril klingen, wenn die meist sehr jungen Ultras die “Tradition“ beschwören und von früheren Zeiten schwärmen. Doch auch für die meisten anderen Stadiongänger ist der – entsprechend romantisch verklärte – Haudegen, der in den seligen Siebzigern 400 Bundesligaspiele für einen einzigen Verein absolvierte, das Idol (…)

Nach jedem Spiel posten Ultras Hunderte Fotos von ihren Choreografien, hochkomplexen Mosaik-Bildern aus Tausenden gleichzeitig emporgereckten bunten Blättern, sie bewerten den “Support“ der Gastmannschaft und ihre eigene Gesangsleistung (…) Ultras sind Teil der Generation Internet. Sie stellen alles online, was von ihren Heldentaten kündigt. Ultras sind enorm selbstverliebt. Zu ihrer Entschuldigung kann man nur anführen, dass das in der großen Blase namens Bundesliga so gut wie alle sind: Spieler, Funktionäre. Und nicht zuletzt Journalisten. Mancher von uns gockelt noch selbstherrlicher durch den Stadioninnenraum als die Ultrafürsten durch die Kurve (…)

Der “Support“, angeblich ja die selbstlose Unterstützung der eigenen Mannschaft, ist längst auch zum Wettbewerb zwischen den Ultra-Szenen einzelner Klubs geworden (…) Das alles passt zur Selbststilisierung als rebellische Gegenbewegung gegen das Fußball-Establishment (…)

(…) Dabei ist die Szene bei aller Freiheits-Rhetorik reglementierter als jeder Kaninchenzüchterverein. Wer als Journalist eine Frage an ein Gruppenmitglied hat, sollte Zeit mitbringen. Wie in den Gründungsjahren der Grünen muss auch bei den Ultras zuerst das Plenum entscheiden, wer aus der Gruppe welche mit dem Kollektiv abgestimmte Aussage treffen darf. Und wehe, einer spricht einfach so mit der bösen Presse. Die Suche nach dem “Verräter“ kann stalinistische Züge annehmen. Insofern hat auch der Korpsgeist der Szene etwas Undeutsches (…)

Den allermeisten Ultras ist “Ultrá“ viel zu heilig, als dass sie es auf ein Sandkastenspiel für Schwarzgekleidete reduzieren wollten. Sie wissen, dass der Bundesligazirkus nichts dringender braucht als eine wache Öffentlichkeit. Und am wachsten ist die Szene, die von Montagmorgen bis Sonntagabend niemals schläft. Ohne Ultras wäre der Alltag in den Stadien schließlich längst noch seelenloser, als er eh schon ist (…) Unterm Strich ist das Fazit damit klar: Dass es die Ultras gibt, ist richtig, schön und wahr. Es stimmt schließlich tatsächlich, dass sie ein Stachel im Fleisch des Fußball-Establishments sind. Nur, dass man das deutlich lieber feststellen würde, wenn die Ultras nicht selbst so versessen darauf wären, sich als Che Gueveras von Paderborn und Alltime-Anarchos von Aachen-Oberforstbach zu stilisieren, bis sie auch in ihren hellsten Momenten nicht mehr merken, wie kleingartentauglich sie geworden sind (…)

(…) Denn im Grunde genommen sehen sie alle anderen Fußballfans in der Kurve genau so, wie sie auch von den Fußballmächten gesehen werden: als unkritische konsumierende Masse. Bleibt zu hoffen, das diese Sichtweise nicht einmal als entscheidende Überdosis Arroganz auf einem Grabstein mit der Aufschrift “Ultrá“ stehen wird. Eines ist sicher: Bei der Beerdigung werden ein paar unangenehme Gestalten mit verdächtig guter Laune auftauchen. Noch wäre genug Zeit, sich ihnen lebend zuzuwenden. Weder die FIFA noch Anheuser-Bush wohnen in der Sesamstraße.

[Dieser Beitrag wurde am 13. Januar 2013 bei Ostfussball.com publiziert.]