[Fundstück] Wolfgang Schaller, Kolumne “Satirischer Nachschlag“, Sächsische Zeitung (Print-Ausgabe), 30. November 2019 –
(…) Friede, Freude, Mauerfall. Auf jedem Sender. In jeder Zeitung. Aber wir waren nicht trunken vor Freude. Sektlaune gab es vor dreißig Jahren. Der Kater folgte. Die Freudentränen von einst hingen bald eingefroren in Einweckgläsern.
Es war Liebe auf den ersten Blick. Aber mit dem zweiten sieht man besser. Der undankbare Ostdeutsche wurde mürrisch, weil er sich behandelt fühlte wie ein seltsames Gemisch aus Spreewaldgurke und Pittiplatsch, das in den Wühltischen des Kapitalismus nach Henkell Trocken und Hakle Feucht grabschte und die Beate-Uhse-Läden stürmte im Glauben, man kriege im Tal der Ahnungslosen mit einem Vibrator Westfernsehen ran (…) Und nun missmutigen einige, dies sei keine Einheit gewesen, sondern ein Anschluss, ein Beitritt. Ja, was sonst hatten wir denn erwartet? Wie ungerecht war denn das Erbe von Marx verteilt? Der Osten hatte das Manifest, der Westen hatte das Kapital. Und nun hört mal auf mit eurer schlechten Laune. Die Fleischtheken sind gefüllt, die Leasingraten für den Volkswagen abbezahlt, und dafür sind wir doch ’89 auf die Straße gegangen (…)
Sieh mal, lieber ostdeutscher Freund: Der Mainstream hat sich nach dreißig Jahren geeinigt zuzugeben, dass es im Osten auch lebenswerte Lebensläufe gab (…) Sieh mal: Sie haben mit Milliarden quer durch den Osten Autobahnen und Stadtzentren gebaut und müssen nun erkennen, dass Asphalt und Beton kein wärmender Schal sind für die verwundeten Seelen derer, die sich ihrer verlorenen Identität wegen wertlos fühlen (…)