Archiv der Kategorie: Anno 2015

MedienScreen # 53 [Pressefreiheit und die ’Freiheit’ der Anderen]

[Fundstück] Uta Deckow, “Pressefreiheit ja – solange es die eigene Meinung deckt“, *Mitteldeutscher Rundfunk (MDR), *mdr.de, 5. Oktober 2015 –

(…) wir alle erleben im Netz und auf den Veranstaltungen, wie einerseits alles als “Lügenpresse“ gebrandmarkt wird – kritische Artikel, Reportagen, Comedy-Sendungen. Aber, die zur eigenen Gedankenwelt passen, die werden fleißig kolportiert und geteilt. Wenn es passt, ist Lügenpresse eben gerade recht genug (…)

(…) Die Pressefreiheit ist in Gefahr. Wo sind wir hingekommen, wenn eines der wertvollsten Grundrechte unserer Verfassung nicht mehr gewährleistet ist? Die Menschen, die mitmachen und zuschauen, wie Journalisten bedroht werden, die aufhetzen und aufstacheln, diese Menschen stehen nicht mehr auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Sie sind also Verfassungsfeinde.

Und ausgerechnet sie bezeichnen Politiker als Verräter? Ausgerechnet sie fordern, Asylbewerber müssten sich an die Verfassung halten? Ihnen sage ich – ach, fangen Sie doch bitte selbst damit an …

BRDDR – Fußball hinterm Horizont

Es ist fast ein bisschen wie ’zwischen den Jahren’, neudeutsch gesagt. Trügerische Ruhe. Das jubiläumsjubelnde – plakativ grenzüberwindende – Unterhaltungsprogramm zum ’Heiligen 3. Oktober’ in Funk, Fernsehen und auf der Straße ist vorbei. Ebensolches oder ähnliches ist zum anstehenden ’Unheiligen 7. Oktober’ kaum zu erwarten.

Warum auch? Silvester als solches ist sowieso überbewertet. Nicht zuletzt politisch. Pyrotechnisch betrachtet lediglich Schall und Rauch. Wie einiges in der Geschichte.

So wie der 7. Oktober eben. Oder der 3. Oktober. War und bleibt letzterer – so jedenfalls stellt es Stefan Berg im SPIEGEL vom 2. Oktober fragend in den Raum – “nicht eher ein Zufallstermin, gewählt, um einen weiteren DDR-Geburtstag am 7. Oktober zu verhindern?“ Sei’s drum. “Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran“ (Unvergessen: Fehlfarben).

Geschichte und Geschichten können zuweilen einiges erzählen. Rückblickend. Auch spielerisch. Abseits vom großen Spiel der Politik. Obwohl so abseitig spielend nun wiederum auch nicht.

Moritzburg
(Open Range In The East Of Germany – Foto: O.M.)

Als Autor des Fußballmagazins 11Freunde veröffentlichte Jens Kirschneck im Sommer 2010 auf der mittlerweile seit Herbst jenen Jahres weniger oder mehr vor sich hin schlummernden Präsenz von friedlicherevolution.de eine dreiteilige Serie namens “Die letzte Saison – Der DDR-Fußball und die Jahre 1989/90″.

Im Rückblick auf eine wie auch immer geartete Zeitgeschichte sei es nachfolgend gestattet, dieses Text-Dokument auszugsweise zu reproduzieren –

(…) 5. April 1989, Dresden – Es ist der vorläufige Höhepunkt in einer Entwicklung, die sich seit einem halben Jahr in der DDR vollzieht. Schon im Frühjahr scheint ein Umdenken in den Führungsetagen des Deutschen Fußball Verbands (DFV) stattzufinden: Im Vorfeld des UEFA-Pokal-Halbfinals gegen den VfB Stuttgart wird den Akteuren von Dynamo Dresden in Aussicht gestellt, mit ihren Ehefrauen zum Auswärtsspiel ins Schwabenland reisen zu können. Ein Goodie für den großen Erfolg im Europacup. Visa für die Eheleute werden beantragt, doch kurz vor der Abreise erklärt der für den Klub zuständige Parteisekretär beim freitäglichen Politikunterricht, dass die Spielerfrauen doch daheim bleiben müssten. Doch kein Spieler kommt deshalb auf die Idee aufzumucken. Zu warm der Kokon, in dem sich die privilegierten Kicker in dem Staat befinden, der sportliche Erfolge stets auch als Propagandainstrument einsetzt. Fußballer haben schon in der Jugend die Möglichkeit, zu Spielen und Trainingslagern ins westliche Ausland zu reisen. Nur die wenigsten nutzen dies zur Flucht (…)

(…) 4. September 1989, Leipzig/Berlin – In Leipzig schließt sich an die Friedensgebete in der Nikolaikirche die erste Montagsdemonstration an. Gegenüber dem Gotteshaus liegt der Schuhladen, in dem die Frau von Lok-Leipzig-Spieler Heiko Scholz arbeitet. Zunächst noch ungläubig, nimmt das Ehepaar das Treiben auf der Straße wahr. Als die Veranstaltungen dort immer mehr Zulauf erhalten, muss der Schuhladen montags bald via behördlicher Anweisung bereits um 15 Uhr schließen. Die Spieler von Lok werden in den Sitzungssaal am Trainingszentrum beordert. Die Mitteilung an die Kicker lautet: “Eine Beteiligung an einer Demonstration ist nicht förderlich.”

Auch in Berlin schreitet die Revolution mit Siebenmeilenstiefeln voran. Bei den Partien des BFC Dynamo, dessen Vorsitzender Stasi-Boss Erich Mielke ist, fällt Bodo Rudwaleit auf, wie die Tribünen ihr Gesicht verändern: “Plötzlich waren die Leute von der Staatssicherheit, mit denen wir beim BFC täglich zu tun hatten, nicht mehr so präsent. Hatten wohl Wichtigeres zu tun.”

(…) Ende Oktober 1989, Berlin – Auf einem Tisch liegen dutzende Papierstapel. Ein Büro in der Zentrale des DFV. Die Funktionäre um Verbandschef Wolfgang Spitzner stellen die Weichen für eine bessere Zukunft. Alle Oberliga- und DDR-Liga-Spieler müssen per Beschluss einen Lizenzvertrag unterschreiben, der den Statuten der FIFA entspricht. Nachdem im Juni und Juli in kürzester Zeit (…) Spieler (…) Partien (…) zur Flucht in den Westen genutzt haben, will sich der Verband gegen einen weiteren Exodus guter Kicker absichern und gleichzeitig auch Vorkehrungen für zukünftige Transfers von DDR-Spielern in den Nicht-Sozialistischen-Wirtschaftsraum treffen (…) Es könnte also ein wichtiges Signal für die Öffnung zum Westen und für allgemeine Reisefreiheit sein, wenn DDR-Stars zukünftig auch in anderen Ländern spielen. Die Vorsitzenden der Klubs holen die Verträge beim Verband ab, um sie in einigen Tage unterschrieben zurückzubringen. Durch diese konzertierte Aktion kann plötzlich kein DDR-Spieler mehr ohne Freigabe vom DFV für einen neuen Verein spielen – auch nicht nach der bis dahin üblichen zwölfmonatigen Sperre.

9. November 1989, Leipzig – Für manchen beginnt der alles entscheidende Tag bereits mit einem Highlight: Um 7 Uhr morgens geht Heiko Scholz zur Fahrzeugauslieferung, um dort für 36.500 Ostmark seinen neuen Wartburg abzuholen. Am späten Vormittag muss er mit dem Neuwagen nach Abtnaundorf im Nordosten von Leipzig, wo sich die Nationalmannschaft trifft. In ein paar Tagen spielt das Team in Wien sein alles entscheidendes WM-Qualifikationsspiel gegen Österreich. Mit einem Sieg kann sich die DDR für die WM in Italien qualifizieren. Am Abend hockt die Mannschaft in der Sportschule zusammen, der Fernseher läuft. Matthias Sammer: “Stunde um Stunde jagte eine Meldung die andere. Reisefreiheit, Geldumtausch, Löcher in der Mauer. Menschenauflauf am Brandenburger Tor. Und bei uns knallten die Champagner-Korken.” Nicht jeder Akteur erlebt die Stunden in Abtnaundorf ähnlich gelöst (…)

(…) 15. November 1989, Wien – Auch wenn der DDR-Verband versucht hat, die aktuellen Nachrichten von den Nationalspielern fernzuhalten – es hat nicht gereicht, um die Konzentration vollends aufrechtzuerhalten. Schon vor dem Spiel drücken sich im Quartier in Lindabrunn Spielerberater in der Hotel-Lobby herum und versuchen, mit den Sportlern ins Gespräch zu kommen. Drei Tore von Toni Polster entscheiden die Partie im Praterstadion. Rico Steinmann verschießt einen Elfmeter und fragt sich: “Hätte ich den reingemacht, wenn die Mauer nicht gefallen wäre?”

Die Männer von Eduard Geyer schleichen traurig vom Platz. Während des Spiels haben sich nicht nur auf dem Rasen außergewöhnliche Dinge ereignet: Auf der VIP-Tribüne halten bereits Vertreter von Borussia Dortmund, Bayern München und Werder Bremen Ausschau nach interessanten Spielern. Leverkusen-Manager Reiner Calmund, der in Köln dem Spiel BRD gegen Wales beiwohnt, hat seine Scouts Dieter Herzog und Manfred Ziegler geschickt – und noch einen Mann, von dem “Calli” sagt: “Wenn der vorne aus der Disco rausfliegt, klettert er durchs Kellerfenster wieder rein.” Wolfgang Karnath hat sich Zutritt zum Innenraum des Praterstadions verschafft. Sein Auftrag: “Bring mir die Kontaktdaten (…)” Calmund behauptet, er habe den Scout mit einem Fotografenleibchen dort eingeschleust, Karnath selbst sagt, er sei mittels seines Sanitäterpasses aus Bundeswehrzeiten an den Ordnern vorbeigekommen.

Als Matthias Sammer in der 79. Minute für Uwe Weidemann ausgewechselt wird, sitzt neben ihm auf der Bank plötzlich ein stämmiger Mann mit buschigem Haar, den er noch nie gesehen hat. Der sagt: “Schönen Gruß von Herrn Calmund, wir wollen Sie nach Leverkusen holen. Lassen Sie uns nach dem Spiel im Hotel Lindabrunn reden.” Als der Schlusspfiff ertönt, verlässt Andreas Thom mit hängendem Kopf das Spielfeld, als ihm plötzlich derselbe Mann – “einer, der wie ein Fotograf aussah” – auf die Schulter tippt (…)

(…) 17. November 1989, Berlin – Reiner Calmund hat einen vollen Terminkalender. Er muss beim Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) ein förmliches Anschreiben wegen des Thom-Transfers einreichen, auch, um den Spieler zu beruhigen, dass alles den behördlichen Weg geht. Am Abend trifft er im Grand Hotel Ulf Kirsten und Matthias Sammer, die aus Dresden anreisen. Vorbehaltlich einer Freigabe durch den DDR-Verband bekommt er am Ende des Treffens von beiden eine Unterschrift unter einen Vorvertrag (…)

(…) Ende November 1989, Berlin – Günter Netzer schwärmt: “Das sind ja traumhafte Zustände bei Ihnen.” Als Vertreter des Schweizer Sportvermarkters CWL ist Netzer zum DFV gekommen, um mit dem Verband über die TV-Rechte und Bandenwerbung in der Oberliga zu verhandeln. Es ist für die Klubchefs die erste Begegnung mit der Marktwirtschaft. Und wie in der DDR üblich, haben sich alle Vorsitzenden der Vereine pünktlich zum Termin an einem Tisch versammelt, um Netzers Vortrag zu lauschen. In anderen Ländern muss er mühsam jeden Klub-Präsidenten einzeln aufsuchen. Die Ideen der CWL sind interessant – doch zu diesem Zeitpunkt kann sich der Verband nicht zu einem Vertragsabschluss durchringen. Erst im März 1990 gelingt es der CWL, mit Energie Cottbus den ersten privaten Vertrag über Marketingrechte abzuschließen (…)

(…) 20. Dezember 1989, Dresden – Auf dem Platz vor der Frauenkirche hält Helmut Kohl eine gefeierte Rede. Ein Vorbote der baldigen Wiedervereinigung. Später am Abend sitzt der Kanzler mit den Spitzen des Bayer-Konzerns zusammen und drängt darauf, von den Transferplänen weiterer Spitzenspieler vorerst Abstand zu nehmen: “Überlegen Sie, was dies für Folgen für das Image der Bayer AG haben wird. Sie können die DDR nicht einfach so leerkaufen.” (…)

(…) 26. Dezember 1989, Berlin – Der politische Wind hat sich gedreht. Auch den Fußballern des BFC bleibt das nicht mehr verborgen. Beim traditionellen Weihnachtsturnier in der Werner-Seelenbinder-Halle fühlt sich Frank Rohde fast wie Freiwild. Dass der Hauptstadtverein bei den Fans aufgrund seiner Verbindung zur Stasi in der DDR nicht beliebt ist, weiß der Abwehrspieler. Doch der Hass eskaliert an diesem Tag. Durch die Fangnetze werden die Spieler von Zuschauern bespuckt. “Stasi-Schwein” ist an diesem Tag eine der netteren Beleidigungen (…)

(…) 10. Januar 1990, Berlin – In der “Bild” erscheint ein Interview mit Rainer Ernst. Darin gibt der wechselwillige Spieler zu Protokoll: “Ich habe viele meiner Tore auf Video. Und bei manchen Elfmetern muss ich im Nachhinein schmunzeln.” In den Augen der BFC-Bosse stellt Ernst damit die gewonnenen Meistertitel in Frage, denn mit seiner Aussage nährt der Spieler das Gerücht, Partien des Rekordmeisters seien regelmäßig manipuliert worden (…) Ernst bekommt keine Freigabe erteilt. Statt sofort für rund 2,2 Millionen Mark zu wechseln, wird Ernst erst im Sommer für 750.000 Mark nach Kaiserslautern transferiert.

In diesen Tagen wird auch ein weiterer Ost-West-Deal perfekt gemacht. Nachdem Calmund Matthias Sammer aus Staatsräson aus seinen Verpflichtungen gegenüber Bayer 04 entlassen hat, unterschreibt der Rotschopf beim VfB Stuttgart. 1,8 Millionen Mark Ablöse nimmt eine Delegation von Dynamo in den Tagen darauf aus Stuttgart in bar in einer Tasche mit. Für Transaktionen dieser Art gibt es in der DDR weder ein geltendes Steuerrecht, noch entsprechende Konten. Weitere Abmachungen in dem Vertrag sind ein Abschiedsspiel für Sammer, das nie zustande kommen wird, sowie ein Mannschaftsbus für die Dresdner. VfB-Präses Gerhard Mayer-Vorfelder macht es sich leicht: Er schickt ein gebrauchtes Leasing-Fahrzeug mit bezahlten Raten für einen Zeitraum von drei Monaten. Weitere Raten gehen zu Lasten von Dynamo (…)

(…) 20. Februar 1990, Berlin – Der BFC Dynamo Berlin benennt sich in FC Berlin um. Mit dem Stasi-Image des BFC ist es schwer, Sponsoren an Land zu ziehen. Durch die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, dem Träger des Vereins, verliert der BFC seine Existenzgrundlage. Der Kapitalismus ist längst auch in der Oberliga angekommen (…)

(…) 26. Mai 1990, überall in der DDR – Die vorletzte Oberliga-Saison der Geschichte endet. Das Double holt Dynamo Dresden. Die Westvereine haben sich im Osten reichlich bedient (…)

(…) 11. August 1990, überall in der DDR – Die Oberliga startet in ihre letzte Saison. Für die 14 Klubs geht es um die Existenz. 29 Rote und 544 Gelbe Karten an 26 Spieltagen signalisieren, wie umkämpft die Spielzeit ist. In den Medien brandet schon bald die Diskussion auf, ob Top-Spieler besser geschützt werden müssten. Das Zuschauerinteresse an dieser K.O.-Liga ist verheerend. Der Zuschauerschnitt sinkt von bislang 8.033 auf nur noch 4.807 Besucher pro Spiel.

Dynamo Dresden ist ein gutes Beispiel, wie verzweifelt die Vereine ums Überleben kämpfen. Die Transferpolitik des Klubs zeugt nur bedingt von Fußballkompetenz. Die Abgänge werden nur teilweise kompensiert. Abgehalfterte Bundesligastars (…) ergänzen den Kader – und kassieren für überschaubare Leistungen fürstliche Gehälter (…)

(…) 20./21. November 1990, Leipzig – Der DFV löst sich auf und wird daraufhin als Nordostdeutscher Fußballverband (NOFV) ein neuer Regionalverband des DFB (…)

(…) 20. März 1991, Dresden – Der Mob regiert im Stadion im neuen Deutschland. Ein Wiedervereinigungsspiel im Leipziger Volksstadion zwischen einer BRD- und einer DDR-Auswahl wurde im Herbst 1990 bereits wegen “Sicherheitsbedenken” abgesagt. Zu DDR-Zeiten wurden Hooligans als “asoziale Elemente” klassifiziert und vor Prestigeduellen vorsichtshalber in Gewahrsam genommen. Nun stellen in vielen Oberliga-Spielstätten – auch wegen der mangelhaften Besucherzahlen – gewaltbereite Zuschauer eine gewichtige Gruppe dar. Wie sehr die Anarchie regiert, zeigt sich an diesem Abend im Europapokal der Landesmeister. Vor 11.000 Zuschauern spielt Dynamo gegen Roter Stern Belgrad. Die Lage ist aussichtslos. Dresden hat das Hinspiel 0:3 verloren. Als die Serben in der zweiten Halbzeit mit 2:1 in Führung gehen, wird es unruhig auf den Rängen. Es fliegen Steine, Raketen und Mülltonnen auf das Spielfeld (…) Das Match wird in der 78. Minute abgebrochen (…)

(…) 3. August 1991, 15.58 Uhr, Rostock – (…) Deutschland ist eine Einheit. Und der Spitzenreiter der Bundesliga heißt für fünf Spieltage Hansa Rostock. Für Momente blicken alle Augen im Land nach Osten (…)

An diesem Samstag im August 1991 (…) scheint es, als sei die Freiheit vollends in der ehemaligen DDR angekommen. Als würde es hinterm Horizont immer weitergehen.

MedienScreen # 52 [BRDDR, Damaliger Dank Reloaded]

[Fundstück] Peter Richter, in “89/90“, Luchterhand Literaturverlag, 2015 –

(…) es würde Beton in unser Land gegossen werden bis jede alte Hitlerautobahn wieder als strahlend weißes Band in der Landschaft lag. Es würden Häuser in unsere Städte gebaut werden, die hässlicher, engherziger, dümmer aussehen würden als alles, was je gebaut worden war, aber die Älteren würden es schätzen, weil es neu war und sauber. Unsere Schmuddelecken würden verschwinden, Feldwege würden, wie im Westen, asphaltiert sein, und die alten, grauen Häuser würden mit Farbe zugeschmiert werden wie die Mädchen an der Straße jenseits der Grenze. Wir konnten das ahnen, wir hatten den Westen gesehen, besuchsweise, und es machte uns jetzt schon krank, dass wir auch noch Danke sagen sollten dafür (…)

Sachsen den sächsischen Indianern

Wer erklärt uns nicht alles die Welt. Dieser und schon früherer Tage. Manchmal besonders eindringlich auch die kleine sächsische Welt. Wie sie so ist, wie sie ist. Und wie es dazu kam, dass sie so ist, wie sie ist. Oder scheint. Mehr oder weniger philosophisch betrachtet, mit weltlicher Weitsicht. Irgendwie. Gewissermaßen gleichfalls aufklärend für die kleine Frau und den kleinen Mann in der Mitte der Gesellschaft.

Nein, nicht durch Kurt Biedenkopf schon wieder. Der ist erst einmal durch mit seinen lodernden Thesen zur Immunität. Es geht auch anders.

Der letztzurückliegende Sonntag bescherte uns in der Morgenpost vom selbigen Tag ein großformatiges Interview mit der “Ex-Politikerin“ Antje Hermenau. “Urmutter der sächsischen Grünen“, “Finanz-Ass“, “Verräterin“ – so im Intro andeutungsvoll durch den Gesprächsführer Torsten Hilscher vorgestellt. “Vor genau einem Jahr verließ sie die Landtagsfraktion, nach Streit um ein schwarz-grünes Bündnis, für das sie eintrat. Im Januar legte sie auch ihre Parteimitgliedschaft nieder, um dann ein ganz neues Berufsleben zu beginnen“, so Hilscher weiter.

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(“Von der liberalen Grünen zur Wirtschaftsberaterin – das neue Leben der Antje Hermenau (51). Ein Interview zu Lobbyismus, Briten und Pegida.“, Dresdner Morgenpost am Sonntag, 27. September 2015 – Faksimile: O.M.)

Viele Worte weiter hinten im Interview wird es dann doch noch einmal politisch, mithin so richtig. Nämlich der Welt die Sachsen-Welt erklärend. Und der kleinen Frau und dem kleinen Mann. Vom Standpunkt der sächsischen Indianer aus.

Torsten Hilscher fragt also die Ex-Politikerin: “Werden Sie international auch auf Dresden und seine Haltung zum Fremden, zu Asyl, Pegida angesprochen?“

Und Antje Hermenau antwortet unter anderem: “Ja, aber seltener als man denkt. Im Allgemeinen geht es dann darum zu erklären, dass die hiesige Bevölkerung 25 Jahre lang unter hohem Anpassungsdruck stand und natürlich nun auch sagt: ’Wir waren zuerst hier und haben alles selbst wieder aufgebaut’. Das ist eine schwer zu erklärende psychologische Frage.“

’Wir waren zuerst hier.’ Das sächsische Indianervolk eben. Darauf muss Frau oder Mann erst einmal kommen. Da sieht der Biedenkopf Kurt aber blass aus.

Pfründe wollen verteidigt sein. Auch in einer Demokratie. Offensiv. So wie einst, als 2004 mitnichten überraschend die NPD im Sächsischen Landtag einzog.

“Es ist Zeit, dass wir uns mit der NPD politisch auseinander setzen“, bemerkte damals am Wahlabend Antje Hermenau. Ja, ja – ’Wir waren zuerst hier.’ Schon zu jener Zeit eine psychologisch scheinbar schwer zu erklärende Frage. Zu politisch? Historisch eine holzschnittartig unzulässige Parallele? Sei’s drum. Sächsische Indianerinnen und Indianer kennen keinen Schmerz.

Immerhin wird der Slogan “Kuba den Kubanern, Indien den Indianern“ Walter Ulbricht zugeschrieben. Aber das ist dann schon wieder eine ganz andere Geschichte.

MedienScreen # 51 [Rational befreite mitteldeutsch sächsische Zone]

[Fundstück] Thorsten Mense, “Der nahe Osten“, konkret, 10/2015 –

(…) Die Flut, die Flüchtlinge, die Grenze zu Osteuropa – Sachsen war schon immer am liebsten Opfer. Ein kleines Bundesland, an den östlichen Rand der Republik gedrängt, vom gesamtdeutschen Kapital kurz freudig in die Höhe gehalten und dann gelangweilt zur Seite gelegt, nicht fähig, sich selbst zu finanzieren. Die neonazistischen Massendemonstrationen in Erinnerung an den “Bombenholocaust“ sind nicht zu verstehen ohne den Dresdner Opfermythos um die vermeintlich unschuldig bombardierte Stadt, Heidenau und Freital nicht ohne die Angst- und Opferrhetorik von CDU und Mitteldeutschem (!) Rundfunk (MDR) (…)

Der Bezug der rassistischen Wutbürger auf die Montagsdemonstrationen der Wendezeit, der Sachsens Elite so schwer aufstößt, ist dabei nur konsequent. Sie beweisen bloß ein weiteres Mal, dass “Volk“ in Deutschland nur völkisch zu denken ist (…)

Sachsen ist eben in vielerlei Hinsicht doch Mitteldeutschland – außer im geografischen. Die Menschen hier sind nicht unbedingt rassistischer als der Rest der Republik. Sie haben einfach weniger Hemmungen, ihren Hass offen auszusprechen und auszuleben, weil sie sich hier zu Recht vom “Volk“ beauftragt wähnen und kaum Strafverfolgung zu fürchten haben. Während Angriffe auf Flüchtlingsheime im Westen nachts und heimlich stattfinden, trifft man sich in Sachsen abends auf Bier und Bratwurst zum fröhlichen Pogrom. Schließlich hält hier Pegida in der Landeszentrale für politische Bildung Pressekonferenzen ab, und der MDR veröffentlicht eine Karte mit Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte unter der Überschrift “Angst vor Flüchtlingen“. Mit Aufklärung ist in der rational befreiten Zone nicht viel zu holen (…)