Am 20. März 1991 um “21.20 Uhr war das sportliche Aus für den [damaligen] 1. FC Dynamo Dresden im Europapokal der Landesmeister besiegelt. 27 Minuten später erlebte Dresdens Fußball das schwärzeste Kapitel seiner langjährigen Geschichte. Hooligans hatten aus der Dresdner Fankurve Steine aus dem Stadiongrund gebrochen und bewarfen Linienrichter Moreno sowie jugoslawische Spieler. Die passiv vorhandenen Polizeieinheiten sahen sich zunächst nicht zum Eingreifen veranlasst, und nachdem etliche Dresdner Spieler sowie Dynamo-Geschäftsführer Manfred Kluge mehrfach vergeblich versucht hatten, die Randalierer zur Ruhe zu bringen, zog der spanische Referee Aladren die Konsequenz: Abbruch in der 78. Minute [Spielstand 1:2]“.
“Wir sind entsetzt über das Verhalten auf den Rängen. Der Polizei-Einsatz erfolgte viel zu zaghaft. Der Wasserwerfer erschien zu spät. Die Jugoslawen haben uns beim Spiel vorgemacht, wie man so eine brisante Partie unter Kontrolle hält“ (Manfred Kluge) [Zitate aus: ’Mit Dynamo durch Europa’, Jens Genschmar, November 2011].
“In Belgrad [6. März 1991, 3:0] fing das Ganze dann so an: Wir sind angekommen, gerade unser Bus war ja sehr gut besetzt, dort standen vorm Stadion etwa zweitausend Jugos, wir also raus aus dem Bus und erstmal todesmutig auf die draufgerannt. Natürlich völlig bescheuert (…) Auf einmal ging es andersrum, aber mit Schmackes! Da sind wir fast ins Stadion geflogen. Dort prasselte alles auf uns nieder: Steine, Flaschen und so (…) Da schmissen die dann die ganze Zeit alles Mögliche von oben runter: angeschliffene Münzen, Flaschen, Steine und was es sonst noch so gab. Die haben uns angespuckt, runtergepisst (…) Da waren neunzigtausend drin – wir waren höchstens siebenhundert Leute, wenn überhaupt.
Nach dem Spiel gab’s da auch keine Kontakte mehr mit den Belgradern, aber dafür mit deren Polizei. Da hieß es dann aber ’Knüppel frei!’ gegen uns. Überhaupt hatten wir dort eher wenig Probleme mit den Fans, die Serben-Bullen waren die, die uns fertig machten (…) Vor dem Spiel haben die uns ins Stadion reingeprügelt und danach hielten die uns dann stundenlang fest, fast fünf Stunden, ohne was zu trinken, geschweige denn zu essen (…) Jedenfalls die Bullen dort, das war das Schlimmste, was es je gab. Das waren einfach Menschenfeinde. Dort ging wenige Monate später der Krieg los, und dir war klar, warum. Diese Serben-Bullen, das war ja das Allerletzte! Klar haben wir auch provoziert, mit Reichskriegsflaggen und Gepose, aber dass die dort derartig freidrehen, hat keiner geahnt (…)
Beim Rückspiel in Dresden hat es natürlich total gescherbelt (…) Das war dann wirklich total verschärft, was hier abging. Das hatte Dresden noch nicht erlebt. Es kursierte ja vorm Rückspiel die Parole ’Rache für Belgrad!’. Und da waren dann hier wirklich Hools und Kameraden aus ganz Deutschland am Start (…)“ [Zitat aus: ’Schwarzer Hals Gelbe Zähne’, Veit Pätzug, November 2005].
“Dresden hätte sich wahrlich einen würdigeren Abschied aus dem Europapokal verdient, zumal heute keiner genau sagen kann, wie lange in der Elbmetropole EC-Abstinenz herrschen wird“ [Genschmar].
Die Partie zwischen Dynamo Dresden und Roter Stern Belgrad vom 20. März 1991 ging nach UEFA-Wertung mit 0:3 in die Geschichtsbücher ein, der Dresdner Verein wurde für zwei Europapokalspielzeiten gesperrt.
Rechtspflegeordnung der UEFA (Neuauflage, 1. Juli 2011)
* Artikel 72 – Verjährung
Der Vollzug von Disziplinarmaßnahmen verjährt bei Ausschluss aus UEFA-Wettbewerben 1) nach 5 Jahren bei Ausschluss für 1 Spielzeit; 2) nach 8 Jahren bei Ausschluss für 2 Spielzeiten; 3) nach 10 Jahren bei Ausschluss für mehr als 2 Spielzeiten.
[Dieser Artikel wurde am 5. Februar 2013 bei Ostfussball.comveröffentlicht.]
Schon immer wieder einmal wurde im seit August 2011 laufenden Prozess um die Hooligans Elbflorenz von verschiedener Seite Kritik an diesbezüglich polizei- und staatsanwaltlich praktizierten Vorgehensweisen postuliert. Die Sächsische Zeitung bilanziert nunmehr Ende Januar 2013 eine “verhärtete Front im Hooligan-Prozess“. Dabei scheinen sowohl die “Abhör-Panne“ sowie darüber hinaus offenbar auch “ignorierte Ermittlungsansätze“ (Sächsische Zeitung) durchaus nicht mehr nur unerhebliche Neben-Rollen zu spielen.
Wie die Sächsische Zeitung weiter berichtet, war die Umsetzung besagten Lauschangriffs vom Mai 2009 “längst nicht so gut. Das hat die Staatsschutzkammer des Landgerichts Dresden nun auch schriftlich. Auf den 48 Tondateien sei so gut wie nichts zu verstehen, sagte eine Phonetikerin vom Landeskriminalamt Brandenburg. Die Sachverständige sollte die Aufnahmen im Auftrag des Gerichts eigentlich verbessern. Doch da sei nichts zu machen“, wird jene Frau indirekt so am 31. Januar von der Zeitung aus Dresden zitiert. “Die Verteidiger fragen sich jedoch, wie die Dresdner Polizei einen ganzen Bericht zu dem einstündigen Gefängnis-Gespräch anfertigen konnte. Das Gericht will nun von der Phonetikerin prüfen lassen, ob sich der Bericht in den Aufnahmen wiederfindet“ (Sächsische Zeitung).
Zudem geht es nach wie vor auch um die so genannten “Döner-Überfälle“ aus dem Juni 2008 in der Dresdner Neustadt. Dahingehend wurde einer der im aktuellen Hooligan Elbflorenz-Prozess mitangeklagt Beschuldigten bereits im März 2009 wegen Landfriedensbruchs zu zweieinhalb Jahren Jugendhaft verurteilt. Damals hatte der Türsteher gestanden, “etwa 60 Leute dazu mobilisiert zu haben. Als Motiv nannte er vermehrten Ärger mit türkischen Jugendlichen in Diskos und in der Türsteher-Szene“.
Die Verteidigerin eines der mutmaßlichen Anführers der Hooligans Elbflorenz kritisierte unterdessen scharf, dass übrigens nie ermittelt worden sei, ob besagtes Geständnis auch stimme – und beantragte nunmehr, drei Türsteher als Zeugen zu hören. Schließlich habe es “zwischen 2007 und 2009 sogar polizeibekannte Auseinandersetzungen in und vor Diskos gegeben – auch unmittelbar vor den Dönerüberfällen. Die Angriffe auf die türkischen Lokale seien nicht politisch motiviert gewesen, sondern eine ’Fehde’ unter Jugendlichen“. Und diese Sachlage “sei von Staatsanwaltschaft und der Staatsschutzkammer bislang schlichtweg ignoriert und nicht ansatzweise überprüft worden“, so jedenfalls die Verteidigerin.
[Dieser Artikel wurde am 2. Februar 2013 bei Ostfussball.comveröffentlicht.]
Die heutige Generation kennt die Geschichten um die Begegnung von Dynamo Dresden mit dem FC Bayern München im Europapokal der Landesmeister in der Saison 1973/74 nur durch Erzählungen. Die oft kolportierten Erlebnisse vom nächtlichen Anstehen nach den begehrten Karten für das Spiel in Dresden vor einer der Vorverkaufsstellen in der Schäferstraße, den Stasi-Spielchen allenthalben und nicht zuletzt um den durchaus dramatischen Verlauf der beiden Partien zwischen dem DDR-Meister und dem Meister aus der BRD mit dem bekannt knappen Ausgang. Viel wurde erzählt und berichtet, einiges davon ist in Büchern und Artikeln sowie auch hier und da im Internet nachzulesen.
Nachdem im Achtelfinale des damaligen europäischen Landesmeisterpokals am 24. Oktober 1973 in München der FC Bayern die Dresdner Dynamos mit 4:3 (2:3) besiegt hatte, kam es am darauf folgenden 7. November zum Rückspiel in Dresden. Auf der Video-Plattform YouTube ist seit einiger Zeit – bildlich und tontechnisch teilweise allerdings etwas wacklig – der Mitschnitt der Spiel-Reportage des westdeutschen Fernsehens von damals in voller Länge zu sehen und hören –
Über die weiteren Gegner ZSKA Sofia und Újpesti Dózsa SC erreichte der FC Bayern München das Finale um den Europapokal der Landesmeister 1973/74 und gewann diesen, aufgrund des damaligen Spielmodus, dann nach einem ersten Finale (1:1 nach Verlängerung) im Wiederholungsfinale letztendlich am 17. Mai 1974 im Heysel-Stadion zu Brüssel mit 4:0 gegen Atlético Madrid.
[Dieser Artikel wurde am 30. Januar 2013 bei Ostfussball.comveröffentlicht.]
Vor gut einem Jahr flaute im Umfeld des damaligen Zweit- und jetzigen Drittligisten FC Hansa Rostock eine durchaus steife Brise auf, als der Verein damals unter anderem beispielsweise beschloss, “die Südtribüne des Ostseestadions zu schließen“. Über die Internet-Präsenz der Suptras Rostock kursierte in jener Zeit ein Text unter der Headline “Südtribüne? Durchboxen! Hansa auswärts? Der Stasi trotzen!“.
(…) Allen Verantwortlichen um Hansa, allen Hansafans und auch jedem neutralen Beobachter sollte klar sein, dass eine komplette Hintertortribüne, die geschlossen und lautstark hinter unserer Mannschaft steht, die einzige vernünftige Option für Hansa Rostock sein kann! Deswegen kann es nur heißen: Südtribüne durchboxen! (…)
Wie aktuell die Ostsee-Zeitung meldet, gibt nunmehr der FC Hansa “den Ultra-Fans die Südtribüne der DKB-Arena zurück“. Demnach plane “der Verein zum Heimspiel gegen Preußen Münster, den Bereich des Stadions wiederzueröffnen, der nach Ausschreitungen im Jahr 2011 geschlossen worden war. Seit Monaten hatten Teile der Fanszene massiv auf die Wiedereröffnung gedrängt. Der Verein hatte zuletzt im Schweriner Innenministerium um Unterstützung für die Öffnung geworben“, so jedenfalls berichtet ostsee-zeitung.de am 18. Januar dieses Jahres.
“Ahu! Freude bei den Fans“, resümiert turus.net – die offizielle Internet-Präsenz der Suptras Rostock schwieg allerdings bis vor kurzem noch mehr oder weniger, weniger als mehr …
[Dieser Artikel wurde am 20. Januar 2013 bei Ostfussball.comveröffentlicht.]
[Fundstück] Christoph Ruf: “Occupy Sesame Street“, in: “Ultras im Abseits? – Porträt einer verwegenen Fankultur“ [Martin Thein | Jannis Linkelmann (Hrsg.)], Verlag Die Werkstatt, Juli 2012 –
(…) Es wird derzeit viel gemauschelt und geraunt in der deutschen Ultraszene. Die Blicke im Block sind misstrauischer geworden, die Abgrenzungsrituale ausgeklügelter, die Codes geheimnisvoller, die Jünger jünger. So jung, dass manche Stirn beim kritischen Stirnrunzeln nicht einmal Falten wirft. Als Journalist muss man sowieso eher froh sein, wenn man auf gerunzelte Stirnen trifft. Die Szene unterstellt den Medien gerne einmal, dass sie eine Ansammlung sensationsgeiler, korrupter Polizeistaatsfanatiker seien, die Ultras pauschal aburteilen. Wie pauschal diese Medienkritik ist, merkt allerdings der ein oder andere. Auch im Umgang mit der Presse wird sich weisen, ob Abgrenzung oder Öffnung künftig das Leitmotiv sein wird.
Noch vor gar nicht allzu langer Zeit brachte die Szene endlich frischen Wind in die Kurven, die neugierig waren, und die deshalb Neugier weckte. Sollte es doch noch einmal so etwas geben wie eine Renaissance der kritischen Fanszene aus den 1990ern? Es sollte. Nur dass die Umarmungsstrategie der Fanveteranen schnell im Keim erstickt wurde. Denn weder die Aktionsformen noch die Kommunikationsmittel von damals waren die von heute. Und das war auch gut so. Oder doch nicht? Ist vielleicht doch nicht alles Neue per se sakrosankt? Es gibt Themen, in denen die Szene langen Atem bewiesen hat. “Pro 15:30“ (heute “Pro Fans“) hat mit seinem damaligen Kernanliegen nachhaltig das Bewusstsein der Fußballfreunde geprägt. Auch “Pyrotechnik legalisieren“ hat höchst professionell gearbeitet und so die manchmal sehr trägen Apparate von DFB und DFL ganz schön ins Schwitzen gebracht. Beides sind hervorragende Beispiele dafür, mit welcher Stringenz die heutige Fangeneration ihre Anliegen nach vorne bringen kann; die heute 40- bis 50-Jährigen haben damals noch oft aus Spaß an der Freude diskutiert. Und irgendwann konstatiert, dass sie nichts erreicht haben.
Und dennoch: Es bleibt der Verdacht, dass die Ultra-Bewegung in vielerlei Hinsicht letztlich nur ein Kind ihrer Zeit ist, in der einige mit bewundernswerter Ernsthaftigkeit Fananliegen vertreten. Und die Masse die Szenespielchen spielt. Not my generation: Heutzutage kommt Form vor Inhalt, das steht einmal fest.
Die Formalia jedenfalls stimmen in der Ultra-Szene. Der Capo erfüllt satzungskonform seine Capo-Pflichten, der Szene-Neuling trägt die Bierflaschen fort, die die Altvorderen ausgetrunken haben. In Studentenverbindungen und bei den Gebirgsjägern gelten die gleichen Gesetze. Doch selbst diese Institutionen wirken in ihrer Bräsigkeit manchmal geradezu erwachsen, wenn man ihre Riten mit dem heiligen Ernst vergleicht, den Ultras auf Kindereien verwenden (…)
Man kann sich stundenlang über die Gepflogenheiten der Sesame-Streetgangs amüsieren. Es ändert nichts an dem beklagenswerten Umstand, dass Dinge, die ernst gemeint sind, irgendwann auch ernst werden. Doch die Verselbständigung einst augenzwinkernder Szenerituale hat Folgen. Nicht nur für den Normalo-Fan, der ein blaues Auge mehr und einen Schal weniger hat. Heute wirkt die Ultraszene mancherorten dogmatischer als der Vatikan. Was nichts anderes bedeutet, als dass ihr das gleiche Schicksal wie dem Heiligen Stuhl drohen könnte. Massiver Mitgliederschwund und die intellektuelle Vergreisung.
Die Alternativen liegen allerdings auf der Hand. Es kommt darauf an, ob sich die Sub-Szene als Teil der gesamten Fanstruktur der Kurve begreift. Gerne auch als radikalerer, unerbittlicherer Teil. Aber eben als Teil eines größeren Ganzen. Als Gruppe, die sich Antennen nach außen bewahrt hat, anstatt nur noch zu funken. Das wäre ihr zu wünschen. Wahrscheinlicher scheint derzeit, dass der Trend zur Inzucht weitergeht und sich die Szene erbitterte Infights im eigenen Ghetto liefert, sich weiter radikalisiert und in gewalttätigen Räuber- und Gendarmspielen ergeht. Das wäre allein deshalb bedauerlich, weil Ultrà dann tatsächlich so autistisch würde, wie seine Gegner es schon lange sehen.
Es wird spannend sein zu beobachten, in welche Richtung die Reise der Ultras geht. Klar ist nur eines: Die Fronten verlaufen exakt so wie damals im Berliner “Kosmos“. Zwischen denen, die für Nachdenklichkeit werben, und denen, die sich von den echten Hooligans nur noch in einem Punkt unterscheiden: Die Hools in den 1980ern und 1990ern haben sich geprügelt, wenn sie das wollten. Es ist eben ein einförmig’ Ding um das Menschengeschlecht …
Die heutigen “Hooltras“ scheinen jedoch in ihrem tiefsten Inneren heilfroh zu sein, dass so oft die Polizei zwischen den Fronten steht, wenn zwei verfeindete Ultragruppen sich wie eine Horde Pavianmännchen beim Paarungsritual in Pose werfen (…) Längst sind beim Räuber- und Gendarm-Spiel für junge Erwachsene ein paar Tabus gefallen, an die sich noch vor zehn Jahren die allermeisten Ultras zwischen Rostock und Burghausen hielten (…)
(…) es sind Einzelfälle, die sich in den vergangenen Jahren so gehäuft haben, dass der Beobachter nicht mehr sicher sein kann, welcher der beiden Pole die Oberhand behalten wird. Der, der Rebellentum inhaltlich definiert. Oder der, der maximale mediale Aufregung für einen Beweis der eigenen Widerspenstigkeit hält. Und der dabei gar nicht merkt, wie sehr er auf die Mechanismen von exakt den Boulevardmedien hereingefallen ist, die man eigentlich einmal an der Nase herumführen wollte.
Aber geschenkt: Ultras sind meist noch sehr jung. Dumm sind sie allerdings nicht. Schon gar nicht in ihrer Kommerzkritik. Denn natürlich wissen auch Ultras, dass Sponsorengelder fließen müssen, um einen Bundesligaetat aufrechtzuerhalten (…)
Es mag zwar etwas skurril klingen, wenn die meist sehr jungen Ultras die “Tradition“ beschwören und von früheren Zeiten schwärmen. Doch auch für die meisten anderen Stadiongänger ist der – entsprechend romantisch verklärte – Haudegen, der in den seligen Siebzigern 400 Bundesligaspiele für einen einzigen Verein absolvierte, das Idol (…)
Nach jedem Spiel posten Ultras Hunderte Fotos von ihren Choreografien, hochkomplexen Mosaik-Bildern aus Tausenden gleichzeitig emporgereckten bunten Blättern, sie bewerten den “Support“ der Gastmannschaft und ihre eigene Gesangsleistung (…) Ultras sind Teil der Generation Internet. Sie stellen alles online, was von ihren Heldentaten kündigt. Ultras sind enorm selbstverliebt. Zu ihrer Entschuldigung kann man nur anführen, dass das in der großen Blase namens Bundesliga so gut wie alle sind: Spieler, Funktionäre. Und nicht zuletzt Journalisten. Mancher von uns gockelt noch selbstherrlicher durch den Stadioninnenraum als die Ultrafürsten durch die Kurve (…)
Der “Support“, angeblich ja die selbstlose Unterstützung der eigenen Mannschaft, ist längst auch zum Wettbewerb zwischen den Ultra-Szenen einzelner Klubs geworden (…) Das alles passt zur Selbststilisierung als rebellische Gegenbewegung gegen das Fußball-Establishment (…)
(…) Dabei ist die Szene bei aller Freiheits-Rhetorik reglementierter als jeder Kaninchenzüchterverein. Wer als Journalist eine Frage an ein Gruppenmitglied hat, sollte Zeit mitbringen. Wie in den Gründungsjahren der Grünen muss auch bei den Ultras zuerst das Plenum entscheiden, wer aus der Gruppe welche mit dem Kollektiv abgestimmte Aussage treffen darf. Und wehe, einer spricht einfach so mit der bösen Presse. Die Suche nach dem “Verräter“ kann stalinistische Züge annehmen. Insofern hat auch der Korpsgeist der Szene etwas Undeutsches (…)
Den allermeisten Ultras ist “Ultrá“ viel zu heilig, als dass sie es auf ein Sandkastenspiel für Schwarzgekleidete reduzieren wollten. Sie wissen, dass der Bundesligazirkus nichts dringender braucht als eine wache Öffentlichkeit. Und am wachsten ist die Szene, die von Montagmorgen bis Sonntagabend niemals schläft. Ohne Ultras wäre der Alltag in den Stadien schließlich längst noch seelenloser, als er eh schon ist (…) Unterm Strich ist das Fazit damit klar: Dass es die Ultras gibt, ist richtig, schön und wahr. Es stimmt schließlich tatsächlich, dass sie ein Stachel im Fleisch des Fußball-Establishments sind. Nur, dass man das deutlich lieber feststellen würde, wenn die Ultras nicht selbst so versessen darauf wären, sich als Che Gueveras von Paderborn und Alltime-Anarchos von Aachen-Oberforstbach zu stilisieren, bis sie auch in ihren hellsten Momenten nicht mehr merken, wie kleingartentauglich sie geworden sind (…)
(…) Denn im Grunde genommen sehen sie alle anderen Fußballfans in der Kurve genau so, wie sie auch von den Fußballmächten gesehen werden: als unkritische konsumierende Masse. Bleibt zu hoffen, das diese Sichtweise nicht einmal als entscheidende Überdosis Arroganz auf einem Grabstein mit der Aufschrift “Ultrá“ stehen wird. Eines ist sicher: Bei der Beerdigung werden ein paar unangenehme Gestalten mit verdächtig guter Laune auftauchen. Noch wäre genug Zeit, sich ihnen lebend zuzuwenden. Weder die FIFA noch Anheuser-Bush wohnen in der Sesamstraße.
[Dieser Beitrag wurde am 13. Januar 2013 bei Ostfussball.com publiziert.]
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