[Fundstück] “Tatort Märchenwald: Jetzt reden die Opfer“, politplatschquatsch.com, 26. September 2012 –
Es sind fürwahr bewegende Zeilen und erschütternde Erinnerungen, die zu Herzen gehen, die uns nach der Enthüllung der wahren Zusammenhänge, die vor fast 40 Jahren zur Verschleppung des Kinderfernsehbären Bummi nach Sibirien führten, erreichten. Kinder, die damals litten und heute Männer und Frauen sind, schwärmten noch einmal von Borstel, dem tumben Igel. Sie gedachten Herrn Uhu, dem steinmeierweisen Vogel mit den Untertellertassenaugen. Sie träumten sich für einen Moment zurück in den heilen Märchenwald der sozialistischen Fernsehkindheit, der Weltrevolution sowenig kannte wie McDonalds und Nintendo.
Kein Name ist vergessen, auch wenn er manchmal durcheinandergewürfelt wird. Die Märchenwald-Forschung steht erst am Anfang und kein Verantwortlicher für den Kahlschlag im Koboldland wird mit dem Schrecken davonkommen.
Bei der sogenannten Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, schreibt einer der Betroffenen mutig, “wurde bislang ein auffällig weiter Bogen um diese Affäre gemacht“. Dabei sei, über 20 Jahre nach dem angeblichen Ende der DDR, längst Zeit für eine Zusammenfassung und Klarstellung gewesen. “Ich selbst, der ich zu dieser Sache auch heute nur anonym zu posten wage, gehöre zu diesen Kindern, denen der charismatisch positive gelbe Bummibär gestohlen wurde, um ihn durch einen unglaubwürdigen, undurchschaubaren Niemand mit einer verstörend deformierten Physiognomie zu ersetzen“, offenbar der PPQ-Leser. Der Verlust schmerze ihn bis heute, und es gebe noch immer kein Verstehen.
Nicht nur dieser Schreiber ermutigt alle, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen, nicht Ruhe zu geben und nicht nachzulassen, bis das letzte Geheimnis um die Ränkespiele hinter der Mattscheibe gelüftet ist. “Es ist wie immer das Verdienst und das Vorrecht der Blogs, das Dunkel um solche ausgeblendeten Geschehnisse zu lichten, und einen ersten Schritt zu tun, die Verantwortlichen, die glaubten, nach all den Jahren seien sie aus dem Schneider, zumindest aufzuschrecken.“
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Mit Dank & Gruß an PPQ und dortselbst im Original.
[Fundstück] “Tatort Märchenwald: Die Verbannung des Bummi“, politplatschquatsch.com, 25. September 2012 –
Er war einer der ersten, die nach dem 2. Weltkrieg ein neues Zuhause im Märchenwald fanden. Der Bär Bummi, ein brummiger, sandgelber Kerl, leistete dem Meister Nadelöhr Gesellschaft, der die fröhlichen Kinder der Arbeiter und Bauern der sozialistischen DDR ab Ende der 50er Jahre immer Sonntagsnachmittag “Zu Besuch im Märchenland“ empfing. Erst der liebenswerte Plüschteddy mit dem großen Herzen bereitete das Feld für Schnattchen und Pittiplatsch, der 1962, kurz nach dem Mauerbau, in einem offensichtlichen Westpaket in die Schneiderstube kam, um systemerhaltende Streiche zu spielen und Rock-Roller-Sprüche wie “Ach, du meine Nase“ und das später durch PPQ weltweit bekanntgewordene “Platsch-Quatsch!“ in die Kamera zu sagen.
Dennoch war es nicht der Kobold, den der Bannstrahl traf. Pittiplatsch, bis heute Namensgeber eines der elaboriertesten Internetblogs, wurde nach Protesten von sozialistischen Pädagogen zwar für einige Zeit vom Sender genommen und hinter den Kulissen auf zahm umerzogen. Heiligabend 1962 durfte der runde schwarze Fex wieder Possen reißen und Schnatterinchen ärgern – nur wenige erkannten, dass der, der da wieder Faxen machte, ein gebrochener Mann war, ein Schatten seiner selbst. Ihm zur Seite gestellt worden waren nun die Kobolde Nickeneck, Drehrumbum der Runde und Wuschel, drei Figuren von großer Undurchsichtigkeit. Waren sie Spitzel, die auf ihn angesetzt wurden? Waren sie seine Betreuer, weil den Machthabern der labile Zustand Pittis nicht entgangen war und sie einen öffentlichkeitswirksamen Ausfall des Stars fürchteten?
Oder hatte Pitti selbst bei der Stasi unterschrieben? Entsprechende Gerüchte machten früh die Runde, konnten aber nie belegt werden. Doch der Ablauf der weiteren Ereignisse im Märchenwald spricht eine deutliche Sprache: So lange der gebürtige Wenigeröder Eckart Friedrichson, der in der Rolle seines Lebens den Nadelöhr gab, seine schützende Hand über die Märchenwäldler hielt, ging alles gut. Fröhlich sang er mit seiner großen Zauber-Elle, die als Ersatz für eine Gitarre diente, das Lied “Ich komme aus dem Märchenland“, kein leiser Hauch von kaltem Krieg wehte durch Studio.
Doch hinter den Kulissen, so behaupten Eingeweihte, schraubten die Realpolitiker längst an einer völligen Neuorientierung der kindlichen Sendung, der sie vorwarfen, zu wenig auf Klassenkampf zu setzen, die Völkerfreundschaft zu vernachlässigen und Anarchisten wie Pittiplatsch zu viel Raum zugeben. Mit Herrn Fuchs wurde von den maßgeblichen Kreisen in Pankow und Moskau ein typischer Vertreter des auf dem Boden der DDR endgültig geschlagenen Kleinbürgertums in die Wald-WG aufgenommen. Fuchs sollte als Zielscheibe für böse Späße Adenauer ersetzen. Der Hund Moppi kam als typischer Vertreter des Proletariats hinzu – er redete nicht viel, aber Blödsinn. Zeigte aber stets deutlich, dass er bereit war, die Sache der Arbeiter mit aller Kraft zu verteidigen. Gute Voraussetzungen für eine große Karriere nicht nur im Showgeschäft.
Dann kam der Tag, an dem Bummi-Bär starb. Ein Rollkommando aus Wünsdorf fuhr unangekündigt vor den Märchenwald-Studios in Babelsberg vor. Augenzeugen erinnern sich an sieben bis neun Männer in Uniformen der sowjetischen Fallschirmjägertruppe, eine Eliteeinheit, die für den KGB besonders knifflige Aufgaben erledigte. Während zwei Mann die Eingänge sicherten, so ein Zeitzeuge, seien die anderen in die Aufenthaltsräume der Darsteller gestürmt. “Dort wurde Bummi knallhart gepackt und rausgeschleift“, erinnert sich der Mann, der bis heute unter traumatischen Träumen wegen des Vorfalls leidet. Der in einem Lied besungene (“Bummi, Bummi“, oben) Star wurde stellvertretend abgestraft, vermuten Forscher heute, wo Stasiakten, die PPQ vorliegen, zumindest die halbe Wahrheit verraten.
Es soll eine Intervention von ganz oben, sprich aus Moskau gewesen sein, die zu dieser Aktion führte. Bummi verschwand spurlos. Eckhard Friedrichson verkraftete es nicht. Das Herz. Meister Nadelöhr, seit seiner Kindheit an Diabetis erkrankt, starb völlig unerwartet, für eine ganze Generation endete mit diesen beiden Verlusten die Kindheit. Das Ende der DDR, es deutete sich bereits an. Im Herbst danach folgte die Biermann-Ausbürgerung, später gingen auch Manfred Krug und Nina Hagen in den Westen, um nicht ebenfalls wie Bummi in die Sowjetunion verschleppt zu werden.
Den Feinden des Friedens im Märchenwald aber kam das nur recht. Hintergrund der Disziplinierungsaktion gegen Bummi, so wurde es später bei einer geheimen Parteiversammlung mitgeteilt, seien Hinweise darauf gewesen, dass der altgediente Bär mit seiner Rolle als Sidekick der dominanten Schnattchen und Pitti nicht mehr zufrieden gewesen sein. Bummi sei in Kreise geraten, die der DDR nicht wohlgesonnen gewesen seien, der Verdacht der Spionage und des Dissidententums habe im Raum gestanden, heißt es in den Stasi-Unterlagen, die von Mielke selbst gegengezeichnet wurden.
Gemeinsam mit der Stasi-Kinderabteilung entwarf der KGB den Plan, Bummi “zu seiner eigenen Sicherheit“ nach Moskau zu bringen. Offiziell wurde dann über den Sender erklärt, der beliebte Bär sei auf Reisen im sozialistische Ausland, um Freundschaft mit Bären aus aller Welt zu schließen. Die Lücke im Märchenwald schloß sein bärbeißiger sowjetischer Vetter Mischka, ein hochrangiger KGB-Offizier mit Einzelkämpferausbildung, der bis zum Ende der DDR tatsächlich mit Drohungen und zuweilen auch blanker Gewalt für stabile Verhältnisse im Märchenland sorgte. Gemeinsam mit Pittiplatsch und Schnatterinchen trat der alptraumhafte, dunkelhaarige Bär, der nach dem Chef der DDR-Auslandsaufklärung Mischa Wolf benannt worden war, auch in hunderten Ausgaben des Abendgrußes “Unser Sandmännchen“ auf. Noch laufen wissenschaftliche Untersuchungen, um zu ermitteln, welche Langzeitschäden die dauernde Konfrontation mit dem wortkargen Russen bei den Kindern verursacht hat.
Bummi hingegen, für viele ahnungslose DDR-Kinder immer noch ein Idol, wurde allenfalls zu hohen staatlichen Feiertagen aus seinem Moskauer Exil zugeschaltet. Er sagte dann ein paar Worte, Kenner spürten, dass er zuvor unter Drogen gesetzt worden war. Nach dem Mauerfall gab es einige hilflose Versuche des talentierten Plüschriesen, in sein altes Metier zurückzukehren. Keiner glückte. Heute lebt Bummi, immer noch schwer bewacht, inzwischen aber auch leicht umnachtet, in einem Heim für verdienstvolle Kulturschaffende der Sowjetunion in Wladiwostok. Interviewbitten von PPQ wurden von der Heimleitung ohne Begründung abgelehnt.
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Mit Dank & Gruß an PPQ und dortselbst im Original.
[Fundstück] Stefan Schwarz, “Pitti kam aus Afrika“, schwarzleser.de, 18. Oktober 2010 –
[…] Kurz gesagt geht es mir um den Nachweis, dass die Charaktere des DDR-Kinderfernsehens Problemlagen und Gruppenkonflikte des Ostens zwar im Puppenformat aber ansonsten völlig unverhüllt darstellten. Genauer gesagt: Was da jeden Abend über den Bildschirm flimmerte, war ein realistischer Spiegel der Gesellschaft, gegen die jede Prenzlberger Untergrund-Lesung wie eine Grußadresse ans Politbüro wirken musste. Dass die Oberen dessen nie gewahr wurden, kann man nur dem professionellen Tunnelblick der Parteizensoren zuschreiben, der – wie der Betrunkene seinen Schlüssel unter der Laterne – seine Feinde immer nur dort suchte, wo er sie üblicherweise zu finden hofft. Was also verkörperten die Figuren des DDR-Abendgrußes?
Pittiplatsch
Pittiplatsch wird immer als Kobold bezeichnet. Das ist nicht nachvollziehbar. Ein oberflächlicher Blick auf Begriff und Bild des Kobolds in der germanischen Mythologie zeigt, dass keinerlei Ähnlichkeiten bestehen. Tatsächlich ist Pittiplatsch von außerordentlich dunkler Hautfarbe, hat eine runde Nase und große leuchtende Augen (die Ähnlichkeit mit dem ehemaligen mosambiquanischen Präsidenten Samora Machel geht ins Doppelgängerische), trägt eine saucoole Pelzweste, wie sie später verständlicherweise von der afroamerikanischen Rapperszene (vgl. Piff Diddy) übernommen wurde. Wenn man jetzt dazu noch weiß, dass Pittiplatsch Anfang der 1960er plötzlich bei Meister Nadelöhr auftaucht, also in der Zeit der intensiven Kontaktaufnahmen zwischen dem sozialistischen Lager und den afrikanischen Befreiungsbewegungen drängt sich der Schluss auf, dass Pitti mitnichten ein Kobold sondern vielmehr ein zu Ausbildungszwecken in die DDR verschickter Afrikaner ist. Ethnisch gesehen ist Pittiplatsch wahrscheinlich ein Bantu. Mit Pitti (vermutlich von Suaheli “Pitia“ = “Vorbeikommen“) kommt Jahre vorm westdeutschen Gastarbeitermitfühl-Hit “Griechischer Wein“ die Migrantenproblematik im (ost!)deutschen Fernsehen zur Sprache. Denn Pittiplatsch erweist sich selbst als außerordentlich schwer integrierbar. Obschon er versucht, sich äußerlich seiner deutschen Umgebung anzupassen (Filzpantoffeln!), verleitet ihn seine typisch afrikanische Impulsivität und sein Hang zu Schabernack immer wieder zu Disziplinverstößen und sehr undeutschen Eigenmächtigkeiten, um die sich die Großzahl aller Märchenwaldgeschichten drehen. Ein weiteres Indiz seiner afrikanischer Abkunft ist sein ausgesprochener Familiensinn. Anders als die meisten deutschen, sonderbar verwandtenlosen Märchenwaldbewohner (ein Hinweis auf die zerrissenen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Ost und West?) hat Pittipatsch eine ausgedehnte Familie von ähnlich pflichtvergessenen, der protestantischen Leistungsethik abgewandten Radaubrüdern und -schwestern, die er mindestens einmal im Jahr besucht.
Schnatterinchen
Im scharfen Kontrast zu Pittiplatsch steht Schnatterinchen: Eine gelbe, damit – wie das Federkleid verrät – noch sehr junge, aber schon sichtbar korpulente und unaufgefordert altkluge Ente. Schnatterinchen, das fleischgewordene Hausbuch, die gegen alles, was spannender ist als Aufräumen und Stühlehochstellen, erhebliche Bedenken trägt, zeigt den jungen Fernseh-Zuschauern drastisch, was aus einem werden kann, wenn man die sozialistischen Moralgebote wirklich verinnerlicht. In ihrer demonstrativen Fadheit steht Schnatterinchen für einen asexuellen FDJ-Kreisleitungstypus, der auf die Beschränkungen des real existierenden Sozialismus reagiert, in dem er seine Individualität quasi wegpackt, und im hegelschen Sinne lieber “heiß auf Langeweile“ wird. Es ist sicher diesem abtörnenden Role Model zu verdanken, dass sich die allermeisten Mädchen in der DDR später dafür entschieden, keine “Schnattchen“ zu werden, wie die öde Flauschente in Kurzform hieß, sondern lieber “Schnittchen“.
Mischka
Die Ersetzung der braven deutschen Teddyfigur Bummi durch den russischen Schwarzbären Mischka Anfang der 70er Jahre, macht nun auch den Vorschulkindern klar, dass der Kurs Walter Ulbrichts, die DDR aus dem Status eines Satellitenstaates des russischen Kolonialreichs herauszuführen, auf der ganzen Linie gescheitert ist. Gleichsam mit der von Moskau beförderten Amtseinführung des gehorsameren Honeckers erscheint in der Parallelwelt des DDR-Abendgrußes der Bär Mischka als russischer Beobachter, der seine aufreizende dramaturgische Überflüssigkeit gar nicht zu verbergen sucht. Mischka, der Bär ohne Eigenschaften, der entbehrbare Bär, ist nicht auf Abenteuer und Geschichtchen aus. Er soll den Märchenwaldbewohner nur als Erinnerung dienen, dass es nicht nur den lustigen ostdeutschen Märchenwald gibt, sondern auch weniger lustige, aber dafür ausgedehnte boreale Nadelwaldzonen jenseits des Urals mit sehr unkomfortablen Barackensiedlungen.
[…] Natürlich ist diese kleine Soziologie des DDR-Abendgrußes unvollständig […]
[Fundstück] Uschi Brüning, interviewt in Sächsische Zeitung, 11. Dezember 2015 –
(…) Mich hat immer geärgert, dass Xavier Naidoo mit einer Art Musik berühmt wurde, die Holger Biege schon viel früher gemacht hat. Aber gut, dafür kann der Naidoo ja auch nichts.
Es ist fast ein bisschen wie ’zwischen den Jahren’, neudeutsch gesagt. Trügerische Ruhe. Das jubiläumsjubelnde – plakativ grenzüberwindende – Unterhaltungsprogramm zum ’Heiligen 3. Oktober’ in Funk, Fernsehen und auf der Straße ist vorbei. Ebensolches oder ähnliches ist zum anstehenden ’Unheiligen 7. Oktober’ kaum zu erwarten.
Warum auch? Silvester als solches ist sowieso überbewertet. Nicht zuletzt politisch. Pyrotechnisch betrachtet lediglich Schall und Rauch. Wie einiges in der Geschichte.
So wie der 7. Oktober eben. Oder der 3. Oktober. War und bleibt letzterer – so jedenfalls stellt es Stefan Berg im SPIEGEL vom 2. Oktober fragend in den Raum – “nicht eher ein Zufallstermin, gewählt, um einen weiteren DDR-Geburtstag am 7. Oktober zu verhindern?“ Sei’s drum. “Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran“ (Unvergessen: Fehlfarben).
Geschichte und Geschichten können zuweilen einiges erzählen. Rückblickend. Auch spielerisch. Abseits vom großen Spiel der Politik. Obwohl so abseitig spielend nun wiederum auch nicht.
Als Autor des Fußballmagazins 11Freunde veröffentlichte Jens Kirschneck im Sommer 2010 auf der mittlerweile seit Herbst jenen Jahres weniger oder mehr vor sich hin schlummernden Präsenz von friedlicherevolution.de eine dreiteilige Serie namens “Die letzte Saison – Der DDR-Fußball und die Jahre 1989/90″.
Im Rückblick auf eine wie auch immer geartete Zeitgeschichte sei es nachfolgend gestattet, dieses Text-Dokument auszugsweise zu reproduzieren –
(…) 5. April 1989, Dresden – Es ist der vorläufige Höhepunkt in einer Entwicklung, die sich seit einem halben Jahr in der DDR vollzieht. Schon im Frühjahr scheint ein Umdenken in den Führungsetagen des Deutschen Fußball Verbands (DFV) stattzufinden: Im Vorfeld des UEFA-Pokal-Halbfinals gegen den VfB Stuttgart wird den Akteuren von Dynamo Dresden in Aussicht gestellt, mit ihren Ehefrauen zum Auswärtsspiel ins Schwabenland reisen zu können. Ein Goodie für den großen Erfolg im Europacup. Visa für die Eheleute werden beantragt, doch kurz vor der Abreise erklärt der für den Klub zuständige Parteisekretär beim freitäglichen Politikunterricht, dass die Spielerfrauen doch daheim bleiben müssten. Doch kein Spieler kommt deshalb auf die Idee aufzumucken. Zu warm der Kokon, in dem sich die privilegierten Kicker in dem Staat befinden, der sportliche Erfolge stets auch als Propagandainstrument einsetzt. Fußballer haben schon in der Jugend die Möglichkeit, zu Spielen und Trainingslagern ins westliche Ausland zu reisen. Nur die wenigsten nutzen dies zur Flucht (…)
(…) 4. September 1989, Leipzig/Berlin – In Leipzig schließt sich an die Friedensgebete in der Nikolaikirche die erste Montagsdemonstration an. Gegenüber dem Gotteshaus liegt der Schuhladen, in dem die Frau von Lok-Leipzig-Spieler Heiko Scholz arbeitet. Zunächst noch ungläubig, nimmt das Ehepaar das Treiben auf der Straße wahr. Als die Veranstaltungen dort immer mehr Zulauf erhalten, muss der Schuhladen montags bald via behördlicher Anweisung bereits um 15 Uhr schließen. Die Spieler von Lok werden in den Sitzungssaal am Trainingszentrum beordert. Die Mitteilung an die Kicker lautet: “Eine Beteiligung an einer Demonstration ist nicht förderlich.”
Auch in Berlin schreitet die Revolution mit Siebenmeilenstiefeln voran. Bei den Partien des BFC Dynamo, dessen Vorsitzender Stasi-Boss Erich Mielke ist, fällt Bodo Rudwaleit auf, wie die Tribünen ihr Gesicht verändern: “Plötzlich waren die Leute von der Staatssicherheit, mit denen wir beim BFC täglich zu tun hatten, nicht mehr so präsent. Hatten wohl Wichtigeres zu tun.”
(…) Ende Oktober 1989, Berlin – Auf einem Tisch liegen dutzende Papierstapel. Ein Büro in der Zentrale des DFV. Die Funktionäre um Verbandschef Wolfgang Spitzner stellen die Weichen für eine bessere Zukunft. Alle Oberliga- und DDR-Liga-Spieler müssen per Beschluss einen Lizenzvertrag unterschreiben, der den Statuten der FIFA entspricht. Nachdem im Juni und Juli in kürzester Zeit (…) Spieler (…) Partien (…) zur Flucht in den Westen genutzt haben, will sich der Verband gegen einen weiteren Exodus guter Kicker absichern und gleichzeitig auch Vorkehrungen für zukünftige Transfers von DDR-Spielern in den Nicht-Sozialistischen-Wirtschaftsraum treffen (…) Es könnte also ein wichtiges Signal für die Öffnung zum Westen und für allgemeine Reisefreiheit sein, wenn DDR-Stars zukünftig auch in anderen Ländern spielen. Die Vorsitzenden der Klubs holen die Verträge beim Verband ab, um sie in einigen Tage unterschrieben zurückzubringen. Durch diese konzertierte Aktion kann plötzlich kein DDR-Spieler mehr ohne Freigabe vom DFV für einen neuen Verein spielen – auch nicht nach der bis dahin üblichen zwölfmonatigen Sperre.
9. November 1989, Leipzig – Für manchen beginnt der alles entscheidende Tag bereits mit einem Highlight: Um 7 Uhr morgens geht Heiko Scholz zur Fahrzeugauslieferung, um dort für 36.500 Ostmark seinen neuen Wartburg abzuholen. Am späten Vormittag muss er mit dem Neuwagen nach Abtnaundorf im Nordosten von Leipzig, wo sich die Nationalmannschaft trifft. In ein paar Tagen spielt das Team in Wien sein alles entscheidendes WM-Qualifikationsspiel gegen Österreich. Mit einem Sieg kann sich die DDR für die WM in Italien qualifizieren. Am Abend hockt die Mannschaft in der Sportschule zusammen, der Fernseher läuft. Matthias Sammer: “Stunde um Stunde jagte eine Meldung die andere. Reisefreiheit, Geldumtausch, Löcher in der Mauer. Menschenauflauf am Brandenburger Tor. Und bei uns knallten die Champagner-Korken.” Nicht jeder Akteur erlebt die Stunden in Abtnaundorf ähnlich gelöst (…)
(…) 15. November 1989, Wien – Auch wenn der DDR-Verband versucht hat, die aktuellen Nachrichten von den Nationalspielern fernzuhalten – es hat nicht gereicht, um die Konzentration vollends aufrechtzuerhalten. Schon vor dem Spiel drücken sich im Quartier in Lindabrunn Spielerberater in der Hotel-Lobby herum und versuchen, mit den Sportlern ins Gespräch zu kommen. Drei Tore von Toni Polster entscheiden die Partie im Praterstadion. Rico Steinmann verschießt einen Elfmeter und fragt sich: “Hätte ich den reingemacht, wenn die Mauer nicht gefallen wäre?”
Die Männer von Eduard Geyer schleichen traurig vom Platz. Während des Spiels haben sich nicht nur auf dem Rasen außergewöhnliche Dinge ereignet: Auf der VIP-Tribüne halten bereits Vertreter von Borussia Dortmund, Bayern München und Werder Bremen Ausschau nach interessanten Spielern. Leverkusen-Manager Reiner Calmund, der in Köln dem Spiel BRD gegen Wales beiwohnt, hat seine Scouts Dieter Herzog und Manfred Ziegler geschickt – und noch einen Mann, von dem “Calli” sagt: “Wenn der vorne aus der Disco rausfliegt, klettert er durchs Kellerfenster wieder rein.” Wolfgang Karnath hat sich Zutritt zum Innenraum des Praterstadions verschafft. Sein Auftrag: “Bring mir die Kontaktdaten (…)” Calmund behauptet, er habe den Scout mit einem Fotografenleibchen dort eingeschleust, Karnath selbst sagt, er sei mittels seines Sanitäterpasses aus Bundeswehrzeiten an den Ordnern vorbeigekommen.
Als Matthias Sammer in der 79. Minute für Uwe Weidemann ausgewechselt wird, sitzt neben ihm auf der Bank plötzlich ein stämmiger Mann mit buschigem Haar, den er noch nie gesehen hat. Der sagt: “Schönen Gruß von Herrn Calmund, wir wollen Sie nach Leverkusen holen. Lassen Sie uns nach dem Spiel im Hotel Lindabrunn reden.” Als der Schlusspfiff ertönt, verlässt Andreas Thom mit hängendem Kopf das Spielfeld, als ihm plötzlich derselbe Mann – “einer, der wie ein Fotograf aussah” – auf die Schulter tippt (…)
(…) 17. November 1989, Berlin – Reiner Calmund hat einen vollen Terminkalender. Er muss beim Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) ein förmliches Anschreiben wegen des Thom-Transfers einreichen, auch, um den Spieler zu beruhigen, dass alles den behördlichen Weg geht. Am Abend trifft er im Grand Hotel Ulf Kirsten und Matthias Sammer, die aus Dresden anreisen. Vorbehaltlich einer Freigabe durch den DDR-Verband bekommt er am Ende des Treffens von beiden eine Unterschrift unter einen Vorvertrag (…)
(…) Ende November 1989, Berlin – Günter Netzer schwärmt: “Das sind ja traumhafte Zustände bei Ihnen.” Als Vertreter des Schweizer Sportvermarkters CWL ist Netzer zum DFV gekommen, um mit dem Verband über die TV-Rechte und Bandenwerbung in der Oberliga zu verhandeln. Es ist für die Klubchefs die erste Begegnung mit der Marktwirtschaft. Und wie in der DDR üblich, haben sich alle Vorsitzenden der Vereine pünktlich zum Termin an einem Tisch versammelt, um Netzers Vortrag zu lauschen. In anderen Ländern muss er mühsam jeden Klub-Präsidenten einzeln aufsuchen. Die Ideen der CWL sind interessant – doch zu diesem Zeitpunkt kann sich der Verband nicht zu einem Vertragsabschluss durchringen. Erst im März 1990 gelingt es der CWL, mit Energie Cottbus den ersten privaten Vertrag über Marketingrechte abzuschließen (…)
(…) 20. Dezember 1989, Dresden – Auf dem Platz vor der Frauenkirche hält Helmut Kohl eine gefeierte Rede. Ein Vorbote der baldigen Wiedervereinigung. Später am Abend sitzt der Kanzler mit den Spitzen des Bayer-Konzerns zusammen und drängt darauf, von den Transferplänen weiterer Spitzenspieler vorerst Abstand zu nehmen: “Überlegen Sie, was dies für Folgen für das Image der Bayer AG haben wird. Sie können die DDR nicht einfach so leerkaufen.” (…)
(…) 26. Dezember 1989, Berlin – Der politische Wind hat sich gedreht. Auch den Fußballern des BFC bleibt das nicht mehr verborgen. Beim traditionellen Weihnachtsturnier in der Werner-Seelenbinder-Halle fühlt sich Frank Rohde fast wie Freiwild. Dass der Hauptstadtverein bei den Fans aufgrund seiner Verbindung zur Stasi in der DDR nicht beliebt ist, weiß der Abwehrspieler. Doch der Hass eskaliert an diesem Tag. Durch die Fangnetze werden die Spieler von Zuschauern bespuckt. “Stasi-Schwein” ist an diesem Tag eine der netteren Beleidigungen (…)
(…) 10. Januar 1990, Berlin – In der “Bild” erscheint ein Interview mit Rainer Ernst. Darin gibt der wechselwillige Spieler zu Protokoll: “Ich habe viele meiner Tore auf Video. Und bei manchen Elfmetern muss ich im Nachhinein schmunzeln.” In den Augen der BFC-Bosse stellt Ernst damit die gewonnenen Meistertitel in Frage, denn mit seiner Aussage nährt der Spieler das Gerücht, Partien des Rekordmeisters seien regelmäßig manipuliert worden (…) Ernst bekommt keine Freigabe erteilt. Statt sofort für rund 2,2 Millionen Mark zu wechseln, wird Ernst erst im Sommer für 750.000 Mark nach Kaiserslautern transferiert.
In diesen Tagen wird auch ein weiterer Ost-West-Deal perfekt gemacht. Nachdem Calmund Matthias Sammer aus Staatsräson aus seinen Verpflichtungen gegenüber Bayer 04 entlassen hat, unterschreibt der Rotschopf beim VfB Stuttgart. 1,8 Millionen Mark Ablöse nimmt eine Delegation von Dynamo in den Tagen darauf aus Stuttgart in bar in einer Tasche mit. Für Transaktionen dieser Art gibt es in der DDR weder ein geltendes Steuerrecht, noch entsprechende Konten. Weitere Abmachungen in dem Vertrag sind ein Abschiedsspiel für Sammer, das nie zustande kommen wird, sowie ein Mannschaftsbus für die Dresdner. VfB-Präses Gerhard Mayer-Vorfelder macht es sich leicht: Er schickt ein gebrauchtes Leasing-Fahrzeug mit bezahlten Raten für einen Zeitraum von drei Monaten. Weitere Raten gehen zu Lasten von Dynamo (…)
(…) 20. Februar 1990, Berlin – Der BFC Dynamo Berlin benennt sich in FC Berlin um. Mit dem Stasi-Image des BFC ist es schwer, Sponsoren an Land zu ziehen. Durch die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, dem Träger des Vereins, verliert der BFC seine Existenzgrundlage. Der Kapitalismus ist längst auch in der Oberliga angekommen (…)
(…) 26. Mai 1990, überall in der DDR – Die vorletzte Oberliga-Saison der Geschichte endet. Das Double holt Dynamo Dresden. Die Westvereine haben sich im Osten reichlich bedient (…)
(…) 11. August 1990, überall in der DDR – Die Oberliga startet in ihre letzte Saison. Für die 14 Klubs geht es um die Existenz. 29 Rote und 544 Gelbe Karten an 26 Spieltagen signalisieren, wie umkämpft die Spielzeit ist. In den Medien brandet schon bald die Diskussion auf, ob Top-Spieler besser geschützt werden müssten. Das Zuschauerinteresse an dieser K.O.-Liga ist verheerend. Der Zuschauerschnitt sinkt von bislang 8.033 auf nur noch 4.807 Besucher pro Spiel.
Dynamo Dresden ist ein gutes Beispiel, wie verzweifelt die Vereine ums Überleben kämpfen. Die Transferpolitik des Klubs zeugt nur bedingt von Fußballkompetenz. Die Abgänge werden nur teilweise kompensiert. Abgehalfterte Bundesligastars (…) ergänzen den Kader – und kassieren für überschaubare Leistungen fürstliche Gehälter (…)
(…) 20./21. November 1990, Leipzig – Der DFV löst sich auf und wird daraufhin als Nordostdeutscher Fußballverband (NOFV) ein neuer Regionalverband des DFB (…)
(…) 20. März 1991, Dresden – Der Mob regiert im Stadion im neuen Deutschland. Ein Wiedervereinigungsspiel im Leipziger Volksstadion zwischen einer BRD- und einer DDR-Auswahl wurde im Herbst 1990 bereits wegen “Sicherheitsbedenken” abgesagt. Zu DDR-Zeiten wurden Hooligans als “asoziale Elemente” klassifiziert und vor Prestigeduellen vorsichtshalber in Gewahrsam genommen. Nun stellen in vielen Oberliga-Spielstätten – auch wegen der mangelhaften Besucherzahlen – gewaltbereite Zuschauer eine gewichtige Gruppe dar. Wie sehr die Anarchie regiert, zeigt sich an diesem Abend im Europapokal der Landesmeister. Vor 11.000 Zuschauern spielt Dynamo gegen Roter Stern Belgrad. Die Lage ist aussichtslos. Dresden hat das Hinspiel 0:3 verloren. Als die Serben in der zweiten Halbzeit mit 2:1 in Führung gehen, wird es unruhig auf den Rängen. Es fliegen Steine, Raketen und Mülltonnen auf das Spielfeld (…) Das Match wird in der 78. Minute abgebrochen (…)
(…) 3. August 1991, 15.58 Uhr, Rostock – (…) Deutschland ist eine Einheit. Und der Spitzenreiter der Bundesliga heißt für fünf Spieltage Hansa Rostock. Für Momente blicken alle Augen im Land nach Osten (…)
An diesem Samstag im August 1991 (…) scheint es, als sei die Freiheit vollends in der ehemaligen DDR angekommen. Als würde es hinterm Horizont immer weitergehen.
ElbsandsteinPolemik
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