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In memory of Ultras.ws

Vor wenigen Stunden wurde am heutigen 17. September 2015 die Internetpräsenz Ultras.ws (UWS) durch den Betreiber in Eigenverantwortung kontrolliert vom Netz genommen und ist demzufolge offline.

Bis zuletzt galt Ultras.ws – trotz szeneintern ganz gern einmal geäußerter Kritik – als das größte deutschsprachige Fan-Forum im virtuellen Fußballraum.

ultras.ws

Innerhalb eines zeitweise durchaus heftig vollzogenen Diskurses um Ultras im Internet, in den Stadionkurven und darüber hinaus, führte Blickfang Ultra (BFU) vor einigen Jahren ein Interview “mit den Machern von ultras.ws“.

Im Rückblick auf die virtuelle Zeitgeschichte wird nachfolgend dieses Text-Dokument auszugsweise reproduziert –

Beschreib doch mal bitte, wann das Projekt ultras.ws gestartet wurde und welche Ziele mit dem Forum verbunden sind. Wie viele Leute stecken hinter diesem Projekt?

Das Projekt wurde ursprünglich unter dem Namen Ultrafans.de im Jahr 2004 gegründet und sollte ein kleiner Info-Blog für erlebnisorientierte Fußballfans werden. Als Forum lief es dann 2005 an, sozusagen neben Hooligans.de mit der gleichen Interessengemeinschaft. Im Umfeld der WM 2006 rückte das Forum in den Fokus der bürgerlichen Medien und erlangte dadurch einen größeren Bekanntheitsgrad. Nach den schweren Ausschreitungen in Leipzig Anfang des Jahres 2007 wurde dann der Serverplatz wegen angeblicher Gewaltverherrlichung gesperrt und wir beschlossen, dem – teilweise herbeizitierten – Hooligan-Image mit einem neuen Namen zu begegnen.

Seit Mitte 2007 läuft das Forum nun unter dem Namen Ultras.ws (…) Wir verstehen Ultras.ws als Treffpunkt und Informationsplattform für Fußballfans jeder Provenienz. Das Credo des nach wie vor zugehörigen Blogs Ultrafans.de lautete schließlich nicht umsonst eine Zeit lang “Für die ganze Kurve”.

Ultras.ws wird derzeit – neben dem bezahlten technischen Support auf unserem eigenen Server – durch ein mittlerweile stabiles Team (…) getragen.

Aus welchen Szenen stammen diese Leute?

Unsere Moderatoren qualifizieren sich nicht vordergründig nach “Ultra-Kriterien” und etwaigen Szenezugehörigkeiten, sondern nach einem gewissem IQ – dazu gehört auch die Fähigkeit der deutschen Schriftsprache mächtig zu sein – und ihrem Wissen ums Internet sowie einer Loyalität untereinander, gegenüber dem Admin, letztlich zum gesamten Forum, quasi jedem einzelnen User. Zudem brodelt wohl in jedem von unserem Team eine gewisse Affinität zum Fußball im weitesten Sinne und zum allgemeinen Ultra-Gedanken. Nicht zuletzt haben wir uns ja auch den Kampf gegen Kommerz und unsolide Verbände auf die Fahne geschrieben – und dazu muss man nicht unbedingt Hardcore-Ultra sein, um diese zunehmenden Gefahren deutlich zu benennen.

Wie genau definiert Ihr “Ultra-Kriterien” oder den “allgemeinen Ultra-Gedanken”?

Ach komm’ – das vielzitierte Ultra-Manifest hat ja nun fast jeder irgendwann mal gelesen. Gut, vielleicht noch einmal deutlicher gesagt: Um bei Ultras.ws aktiv mitzuwirken, bedarf es unserer Team-Auffassung nach nicht der direkten Mitgliedschaft in einer der Szene-Gruppierungen. Unser hauptsächliches Mittel ist das Internet. Schon vor einiger Zeit resümierte damals BAFF, dass “Fußballfans keine Lobby haben und man mit dem Hooligan-Totschlagargument jede noch so absurde Maßnahme rechtfertigen kann”. Dagegen stehen wir. Irgendwo war im vorigen Jahr zu lesen: “Selbst ernannte Fußball-Experten, angebliche Szene-Kenner aller Couleur, gibt es landauf und landab; sich zudem teilweise mit virtuellen Internet-Ultras und Foren-Hooligans gegenseitig fast perfekt niveaulos ergänzend”. Auch dagegen arbeiten wir. Wir müssen uns doch nicht ständig öffentlich definieren oder gar für unser Tun rechtfertigen, wir tun es einfach – für die ganze Kurve, zumal auf Ultras.ws ja auch nicht nur deutsche Fans, Kutten, Ultras, Hools unterwegs sind.

Trotzdem steht Ihr aber offensichtlich besonders bei denen, die das Geschehen in den Kurven am aktivsten formen und fördern – nämlich die Gruppen selbst – immer wieder in der Kritik. Nicht wenige Gruppen haben sich öffentlich bereits mehrere Male negativ über Eure Plattform geäußert. Wie setzt Ihr Euch damit auseinander?

Kritik nehmen wir auf alle Fälle erst einmal zur Kenntnis, schließlich lesen wir ja den Tag und auch zuweilen die Nacht über so einiges. Das Niveau von Ultras.ws zu kritisieren, diese Kritik aber manchmal selbst auf eine Art zu publizieren, die eher im Artikulationsbereich eines Vorschülers anzusiedeln ist, zeugt allerdings nicht unbedingt von Reife oder Verständnis. Es kommt schon darauf an, wie sich uns gegenüber kritisch geäußert wird. Einiges mag da ja mitunter durchaus berechtigt sein. Schließlich tauchen in jedem Online-Forum unqualifizierte Beiträge von Usern auf. Da gilt es eben, möglichst zeitnah und sauber die Spreu vom Weizen zu trennen und eine einigermaßen okaye Struktur zu gewährleisten. Gerade in unseren News-Bereichen halten wir uns zu Gute, ziemlich fit zu sein und Berichte sowie Nachrichten nicht ungeprüft stehen zu lassen.

Aber schau Dir mal andere, eher interne, Foren an: Da werden Berichte von so genannten Ultra-Größen geschrieben und man kann schon den Eindruck bekommen, Kritik und Diskussionen seien unerwünscht. Unser Ansatz ist da deutlich breiter gefächert.

Die uns gegenüber immer wieder einmal postulierten Statements von Szene-Gruppierungen, wie beispielsweise “Wer nicht dabei war, sollte sich kein Urteil erlauben”, sind in Zeiten der vernetzten Informationsmöglichkeiten doch einfach irgendwo nur noch kindisch und ebenfalls immer wieder einmal kursierende Boykott-Aufrufe sind noch kindischer – zumal es ja bei weitem nicht so ist, dass wir nur im Internet unterwegs wären.

Und unser Bemühen, die in unserem Forum stattfindenden Diskussionen in einem mehr als nur ansatzweise niveauvollen Rahmen zu halten, kann uns wohl niemand zum Vorwurf machen – jedenfalls stehen wir für Ultras.ws gerade, und gut ist.

Seht Ihr Euch denn selbst als Ultras?

Gegenfrage: Glaubst Du, dass sich Leute, die beispielsweise in der Financial Times schreiben, mit den Finanz-Gebaren über die sie berichten, identifizieren? Da liegt uns als Team – um im bemühten Bild zu bleiben – der Ultra-Gedanke wohl bedeutend näher, als denen die Knete anderer. Aber falls Du darauf anspielst: Wir sind durchweg alle keine Jüngelchen mehr, und jeder von uns hat bis heute durchaus seine eigene mehr oder weniger erlebnisorientierte Vita.

Das klingt beinahe so, als würdet Ihr Euch von vielen Dingen bewusst distanzieren, die die Ultras – oder zumindest die “Ultra-Größen”, wie Du sie nanntest – momentan beschäftigen und die ihren Tagesablauf bestimmen. Ist das so?

Ja, teilweise schon – wenn man sich beispielsweise die politische Einflussnahme bestimmter Gruppen anschaut. Das hat schon in mehreren Situationen auf der Straße oder auch im Internet für Konflikte gesorgt, welche mit dem Sport in keinster Weise zu tun haben. Wir versuchen die Politik bewusst aus unserem Forum herauszuhalten.

Worin besteht eigentlich der Tagesablauf eines Ultra, gute Frage – wohl doch aus Arbeit, Freunden und seinem geliebten Verein. Daran dürfte sich in den letzten Jahren nichts grundlegend groß geändert haben. Zaunfahnen malen und Schals herstellen gehörte auch in den 70iger und 80iger Jahren dazu. Selbst Choreos hat man damals schon versucht, welche aber in der heutigen Zeit aufgrund der besseren Organisation innerhalb der Gruppen deutlich professioneller ausfallen. Und der Kampf gegen die allgemeine Kommerzialisierung treibt uns doch alle irgendwie um, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen. Unser vorrangiges Mittel ist nun mal das Internet. Klar, der mehr als schleichende Kommerz konnte bislang allerdings auch durch den Kampf der Ultras nicht aufgehalten werden. Aber selbst damit können Ultras leben, sonst wäre ja die Ultra-Bewegung längst wieder ausgestorben.

Wir distanzieren uns nicht von Ultra-Größen – warum auch? Allerdings zieht das Forum bei Leuten, die sich nicht an unsere allgemeinen Foren-Regeln halten wollen, eine klare virtuelle Deadline. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Ultra, Hooligan, Kutte oder ganz normalen Fan handelt. Für uns steht die Meinungsfreiheit im Vordergrund, die aber bei Beleidigungen, Pöbeleien und ähnlichem ihre deutliche Grenze hat. Da kann es auch schon mal vorkommen, dass bei uns so genannte Szene-Größen gesperrt werden, die sich dann später auf ihren eigenen Homepages über uns ausheulen, bisher eben stets leider auf eher niedrigerem Niveau und oftmals mit vielen Widersprüchen in den eigenen Äußerungen.

“Das aktuelle Ultras.ws-Forum gibt jedem Fan die Möglichkeit, sich über die Ultrabewegung zu informieren, aber auch seine Meinung zum Thema zu vertreten”, schreibt die Deutsche Akademie für Fußballkultur über uns. Ganz so abseitig ist diese Aussage gar nicht einmal, trifft sie doch nahezu unseren breiteren Ansatz einer offenen Informations- und Diskussionsplattform.

Ob die Ultrá-Bewegung überhaupt fortbestehen kann, ohne sich politischen Vorgängen zu öffnen und auch wirtschaftspolitische Zusammenhänge zu erkennen und notfalls zu behindern, mag mal dahin gestellt sein. Was hingegen auch immer wieder für Kritik sorgt ist die Werbung auf Eurer Seite. Überflüssig oder gar nicht wegzudenken?

Nein, die Werbung ist leider nicht wegzudenken, da wir mit stetig steigendem Traffic natürlich auch steigende Kosten haben. Gute und moderne Technik für einen reibungslosen Ablauf und hundertprozentige Erreichbarkeit – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, bei bis zu 200.000 Webseitenaufrufen täglich – ist nicht unbedingt billig. Wir benötigen allein dafür jährlich mehrere tausend Euro. Genau wie andere große Webseiten sind wir deshalb vom Geld, sprich den Sponsoren, abhängig. Der Vorteil von Banner- oder Textlinkwerbung ist jedoch, dass kein User tatsächlich Geld dafür zahlen muss. Niemand wird gezwungen, die Werbung zu klicken und die Sponsor-Webseiten zu besuchen. Zudem ist der Content-Bereich für angemeldete User werbefrei und keiner wird beim Schreiben oder Lesen aufdringlich mit Werbeeinblendungen belästigt. Außerdem haben die Sponsoren von Ultras.ws absoluten Content-Bezug und mancher User hat bei Aktionen oder Sonder-Angeboten so auch schon Geld beim Einkauf gespart.

Die Frage klingt schon ein wenig nach “Barfuß oder Lackschuh”. Eins ist doch klar: Ohne Geld funktioniert nun mal in einer kapitalistischen Gesellschaftsform rein gar nichts, noch nicht einmal bei Kommerz ablehnenden Ultras. Choreos, Spruchbänder, Fahnen, Doppelhalter, Buttons, Seidenschals, Fanzines oder Mitfahrgelegenheiten – alles kostet schließlich Geld und selbst der BFU wird ja auch nicht kostenlos angeboten.

Es gab mal Vorschläge zwecks eines Spendenbuttons in unserem Forum, dem wir aber als eingetragene journalistische und steuerzahlende Medien-Firma nicht nachkommen konnten. Dieser fiskalische Verwendungszweck ist in der Bundesrepublik nur Organisationen wie eingetragenen Vereinen vorbehalten (…)

Wenn wir mal in die Zukunft blicken: Welche Ziele habt Ihr dann vor Augen? Wohin soll der Weg führen?

Vielleicht beginne ich bei der Antwort mit einer Ansage von Stromberg aus der gleichnamigen Serie: Wer nicht mit der Zeit geht, der muss mit der Zeit gehen. Wir sind als Ultras.ws-Team jedenfalls mittlerweile sehr gut sortiert, haben unsere Erfahrungen gemacht, auch aus Fehlern gelernt und blicken alles in allem optimistisch voraus. Aber: Wer sich nicht verändert, läuft Gefahr abzusterben. Es ist im Prinzip wie im Fußball: Wer den Generationswechsel verpasst, ist quasi dem Abstieg geweiht. Dazu gehört im Internet, um in unserem Medium zu bleiben, neben den nachrückenden aktiven User-Generationen auch die sich ständig weiter entwickelnde Kommunikationstechnik (…)

Darüber hinaus wollen wir unser Netzwerk auf nationaler – aber auch auf internationaler – Ebene deutlich weiter ausbauen. Zunächst liegt unser Hauptaugenmerk dabei auf Österreich und der Schweiz, da durch den Vorteil der übergreifenden deutschen Sprache beste Kommunikationsvoraussetzungen bereits gegeben sind. Informationen für das breitere Publikum sind gerade dort noch sehr einseitig und werden hauptsächlich von der bunten Presse gesteuert, die fast gebetsmühlenartig das Bild vom bösen Hooligan projiziert. Dieses Manko wollen wir beseitigen helfen. Vielleicht noch etwas weiter vorausschauend kann man bereits seit einiger Zeit konstatieren, dass wir da in unserem Forum einen doch sehr lebendigen Polen-Thread haben.

Das endgültige Ziel könnte aus unserer heutigen Sicht durchaus ein großes kostenloses soziales Netzwerk mit Berichten, Podcasts, Videos, Bildern, Interviews oder anderweitigen Kommunikationsmitteln der Zukunft werden, wo User begreifen, dass sie fürs Geben auch etwas zurück bekommen, nämlich unzensierte Informationen aus erster Hand. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Und vielleicht bemerkt ja die, wie auch immer geartete, Fan-Szene unterwegs, dass Ultras.ws einfach ein kleiner Bestandteil dieser Szene ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

[BFU: Tim Geideck | UWS: outrider/MOD]

Das Interview wurde exhaustiv in Blickfang Ultra # 11 (Februar 2009) veröffentlicht.

”Lebbe geht weider“ (Dragoslav Stepanović).

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Blickfang Ultra: Saison 2014/15 im Schwanengesang

Wie nähert man sich einem sterbenden Schwan? Wobei ’sterbend’ so richtig nun vielleicht auch wieder nicht ist, ’Schwan’ aber schon, irgendwie. Aber der Reihe nach.

Ein kleines Jubiläum. Der fünfte Saisonrückblick von Blickfang Ultra (BFU). Drittmalig präsentiert im A4-Format. Wie gewohnt hervorragend layoutet und in bester Print-Qualität.

Im Heft vertreten sind 30 Ultra-Gruppierungen, die in bekannter Art und Weise – quantitativ und auch qualitativ durchaus unterschiedlich – aus ihrer Sicht die Saison 2014/15 Revue passieren lassen. Zudem werden im Mittelteil der Publikation eine saisonale TOP 140-Zuschauertabelle sowie ein monatlich gegliederter Jahresrückblick dargestellt. Am Ende des Heftes dokumentiert sind gleichfalls auch das Zaunfahnen-Ranking 2015 sowie die bezügliche “Ewige Tabelle“. Last but not least erfolgt ein kleiner Szeneseitenblick in die Schweiz.

bfu_saison_14_15

Aber irgend etwas scheint anders. Die Gruppen-Beteiligung hat sich von vorjährlich noch 47 auf nunmehr 30 dezimiert. Wobei der Osten der Bundesrepublik – im Vergleich von letztsaisonal zehn – aktuell noch mit sieben Wort- und Bildbeiträgen vertreten ist.

Irgend etwas schimmert. Seitens der Herausgeber wurde fast bei jeder Veröffentlichung der Saisonrückblicke die eher polemisch anmutende Frage in den Raum gestellt, “ob es zukünftig überhaupt noch Sinn macht, das Projekt auch im kommenden Sommer zu stemmen“.

Und irgend etwas ist anders. “Einige wird es vielleicht traurig stimmen, andere gar nachdenklich und anderen wird es schlichtweg egal sein, aber das vor euch liegende Pamphlet wird mit großer Wahrscheinlichkeit das letzte seiner Baureihe sein“ (Mirko Otto, “Salut!“ im Heft).

“Wenn ein Schwan stirbt …“ – Der einen oder dem anderen mag diese Textzeile aus einem Klassiker von Karat im Ohr sein.

Vielleicht wäre es für die zuweilen nur noch selbstverliebte Old- und Next-Generation der Ultras an der Zeit, einmal kurz zu schweigen. Und szeneübergreifend die Sonnenbrillen abzusetzen sowie zumindest symbolisch das Basecup zu lüften.

Erschienen ist der bislang letzte Blickfang Ultra Saisonrückblick bereits vor gut einem Monat, gleichwohl für 7,90 Euro bei einem Händler des eigenen Vertrauens nach wie vor erhältlich. Vermutlich wird dereinst auf gewissen Plattformen der Preis für ein “weltweit aktuell kein ähnliches Projekt auf Papier“ (Mirko Otto) das Vielfache betragen, alle anderen BFU-Rückblicke inbegriffen.

Erst wenn etwas nicht mehr da ist, wird mitunter bewusst, was fehlt. Aber das wäre dann schon wieder eine andere Geschichte.

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MedienScreen # 35 [Ultras nach BGH-Urteil nicht mit Hooligans gleichgesetzt]

[Fundstück] “Bundesgerichtshof erweitert den Begriff der kriminellen Vereinigung nicht“, fananwaelte.de, 12. März 2015 –

Die Arbeitsgemeinschaft Fananwälte kritisiert die Kommentierung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 22.01.2015, 3 StR 233/14, zur Frage der Einordnung von sogenannten Hooligan-Gruppierungen als krimineller Vereinigung. Ohne die schriftlichen Urteilsgründe abzuwarten, wurden nach Bekanntwerden der Entscheidung angeblich erweiterte polizeiliche Befugnisse insbesondere von Seiten der Polizeigewerkschaften begrüßt. Insbesondere wurde suggeriert, der BGH habe die “kriminelle Vereinigung” begrifflich erweitert.

Dies ist jedoch nicht zutreffend. Der Bundesgerichtshof nimmt mit seiner Entscheidung keine Erweiterung des Begriffs der kriminellen Vereinigung vor, sondern hält seine ständige Rechtsprechung aufrecht. Eine Ausdehnung des Begriffs der kriminellen Vereinigung beispielsweise auf Ultrafangruppen lässt sich durch das Urteil des Bundesgerichtshofs gerade nicht begründen.

Nach der Rechtsprechung des BGH setzt eine kriminelle Vereinigung voraus, dass Ziel und Zweck einer Personenvereinigung die Begehung von Straftaten ist, wobei sich – als wesentliches Abgrenzungsmerkmal zu nichtkriminellen Vereinigungen – die Gruppenmitglieder unter Zurückstellung ihrer individuellen Einzelmeinung der Willensbildung der Organisation und diesem Ziel unterwerfen.

Dies ist bei Ultrafan-Gruppierungen nicht der Fall. Die Mehrheit der Mitglieder von Ultrafan-Gruppierungen verfolgt das Ziel, die jeweilige Fußballmannschaft zu unterstützen und stellt das verbindende Fußballerlebnis in den Vordergrund. Das Begehen von Straftaten ist nicht das gemeinsame Ziel, was bereits aus der Heterogenität der Zusammensetzung folgt. Das Urteil des BGH stellt eine reine Einzelfallentscheidung dar und betrifft nicht die Ultrafan-Gruppierungen (…)

[Dieser Beitrag wurde am 23. März 2015 bei Ostfussball.com publiziert.]

Blickfang Ultra: Saisonrückblick 2013/14

Zum zweiten Mal nach 2013 präsentiert sich das aktuell saisonrückblickende Heft von Blickfang Ultra (BFU) im auffälligen A4-Format – insgesamt viermalig erschien nunmehr bereits diese durchaus aufwendig gestaltete Print-Publikation.

“(…) Der Aufwand, der hinter einem solchen Projekt steckt, ist wirklich enorm und motivieren kann phasenweise einzig und allein der Blick auf das letztjährige Resultat. In der Tat war ich selten zuvor so stolz auf ein Machwerk wie dieses. Und genau aus diesem Grund verwundert es doch etwas, dass die Bereitschaft zur Mithilfe bei einigen Gruppen beständig zu sinken scheint. Waren es in der vergangenen Saison noch 46 Gruppen, so sind wir aktuell bei nur noch 41. Einige sind neu hinzugekommen, andere abgesprungen (…)“ [Mirko Otto, “Salut!“ im Heft].

bfu_saison_13_14

Beim saisonalen 2010/11’er Rückblick präsentierten sich sieben und für die Saison 2011/12 acht Ultra-Gruppen aus dem ostdeutschen Raum in den BFU-Heften, 2012/13 gaben neun ostdeutsche Gruppierungen ihr Statement ab. Im BFU-Saisonrückblick 2013/14 kommen die folgenden zehn alphabetisch aufgelisteten Vertretungen zur Wort und Bild –

BLOCK U # 1. FC Magdeburg

“Das Gefühl, nach langer Zeit einmal wieder ernsthaft konkurrieren zu können, war Balsam für die gescholtenen Seelen der Clubfans.“

ERFORDIA ULTRAS # FC Rot-Weiß Erfurt

“Am Ende setzte die Ernüchterung ein – Platz zehn in der Liga und eine zerschmetternde Derbyniederlage im Pokalfinale warfen alles, was sich Verein und Fans das Jahr über gemeinsam aufgebaut hatten, über einen Haufen.“

HORDA AZZURO # FC Carl Zeiss Jena

“Plötzlich wurde offensichtlich, was in den Tagen seit der MV mehr oder minder verdrängt wurde. Die Stimmung in den eigenen vier Gruppenwänden war an einem Jahrhunderttief angekommen, nicht Wenigen war plötzlich zum Heulen zu Mute.“

RED KAOS 97 # FSV Zwickau

“Abgesehen von den steten Fahrten nach Berlin im gefühlten Zwei-Wochen-Takt, konnte nun endlich mal wieder in ’gute Gegner – schlechte Gegner’ unterschieden werden und so waren es vor allem die ’Bumskicks’, einstmals unsere Stärke, die jetzt für gelangweilte Gesichter und daraus resultierende Lethargie im Block sorgten.“

SAALEFRONT # Hallescher FC

“Engagement ist im Regelfall eine eher naturgegebene Sache, die die Leute selbst mitbringen müssen … früher oder später trennt sich eben doch die Spreu vom Weizen, so zeigt es uns die Erfahrung aus vielen Jahren Ultraszene.“

ULTRAS BFC # BFC Dynamo

“Das Ziel war ein gemeinsamer Block mit einer entsprechenden stimmlichen Stärke. Wir wollten gemeinsam den in unseren Augen ausbaufähigen Support bei den Heimspielen der letzten Jahre verbessern. Differenzen und Bedenken wurden aus dem Weg geräumt und der eigene Schatten übersprungen.“

ULTRAS CHEMNITZ # Chemnitzer FC

“Ja, auch die primitiven, rechtsoffenen, dauerbesoffenen und irgendwie im Jahr 2002 feststeckenden Ultras Chemnitz (sind jetzt alle Klischees angesprochen worden?) blicken wieder zurück auf die letzte Saison und während halb Ultra-Deutschland gelangweilt weiterblättert, freut sich der Rest auf die erquickenden Erlebnisse von Asi-Ronny und seinen 40 Säufern. Nun gut, den Gefallen wollen wir euch tun, also legen wir mal – wie immer – direkt mit einem Blick auf das sportliche Geschehen rund um den Chemnitzer FC los.“

ULTRAS DYNAMO # SG Dynamo Dresden

“Abgesehen von einigen Ausreißern nach oben war es eine durchwachsene Saison. Zwar behielt der K-Block bei den meisten Spielen die Oberhand in Sachen Lautstärke und Geschlossenheit, es darf aber nicht der Anspruch sein, sich am Gegner zu messen.“

ULTRAS GERA 99 # BSG Wismut Gera

“15 Jahre Ultras Gera: ein kleines, großes Jubiläum, und das (bisher) ganz ohne die gebührenden Feierlichkeiten. Was stimmt da nicht in Gera und bei UG 99?“

WUHLESYNDIKAT # 1. FC Union Berlin

“Wir werden uns in Zukunft wohl noch intensiver mit dem Thema Vereinsarbeit auseinandersetzen müssen, um die geschaffenen Werte und die Fankultur des 1. FC Union zu bewahren.“

So weit, so gut, betrachtet man die jährlich steigende Beteiligung aus ostdeutscher Sicht – plus Eins, plus Eins, plus Eins – am BFU-Projekt.

Gleichwohl wird seitens der Herausgeber, wie allerdings fast schon bei jeder Veröffentlichung der Saisonrückblicke, erneut aktuell wiederum die Frage gestellt, “ob es zukünftig überhaupt noch Sinn macht, das Projekt auch im kommenden Sommer zu stemmen. Aus derzeitiger Sicht natürlich noch gar nicht zu beantworten, mal schauen und abwarten, was die Zukunft so bringt. Jetzt aufzugeben und dem schnelllebigen Internet das Feld zu überlassen, wäre aber ja auch eigentlich doof und entspricht nicht dem Naturell eines Ultras …“ [Mirko Otto, “Salut!“ im Heft].

Blickfang Ultra Saisonrückblick 2013/14 ist zwar schon Ende Juli dieses Jahres veröffentlicht worden, ein Blick in die Publikation lohnt sich aber ganzjährig – und dokumentarisch darüber hinaus sowieso. Die aktuelle Broschüre ist bei einem Händler des eigenen Vertrauens durchaus noch erhältlich. Schade, wenn es nächstsaisonal nicht mehr so sein sollte.

[Dieser Artikel wurde am 8. Oktober 2014 bei Ostfussball.com veröffentlicht.]

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Sachsen: Rechtsextreme Fußballfans im Fokus oder so

“Fans aus dem Umfeld von Dynamo Dresden werden – Innenminister Markus Ulbig (CDU) zufolge – gegenwärtig nicht durch das LfV Sachsen überwacht. Gegen die ’derzeit nicht in Erscheinung tretende Gruppierung’ Faust des Ostens läuft allerdings unterdessen ein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung“ (September 2012).

Im damaligen Zusammenhang listete im Jahr 2012 dann das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Sachsen “wegen rechtsextremer Umtriebe“ unter Beobachtung stehende Fußballfans auf. Nach Angaben des Staatsministers zählten die Fan-Gruppen Scenario Lok und Blue Caps LE aus dem Umfeld des 1. FC Lok Leipzig sowie – den Chemnitzer FC tangierend – New Society/NS Boys und Hoonara zu den Beobachtungszielen des Verfassungsschutzes in Sachsen.

(…) Die getroffenen Aussagen stießen beim Chemnitzer FC auf Unverständnis. Bei MDR-Online kommt (…) CFC-Geschäftsstellenleiter Lutz Fichtner zu Wort, dem derzeit keinerlei Informationen vorliegen, dass der Verein oder einzelne Fans unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen würden. Im Gegenteil, die Gruppierung “Hoonara“ bestünde in ihren Strukturen bereits seit dem Jahr 2000 nicht mehr; ebenso wurde die zweite Gruppe, die “New Society“ vor drei Jahren hinsichtlich ihrer Symbolik vom Verein verboten. Gegen damalige Führungskräfte sind entsprechende Stadionverbote verhängt worden (…) [cfc-fanpage.de, 19. September 2012]

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(Dresden, Herbst 2013 – Foto: O.M.)

“Das sächsische Innenministerium sieht derzeit vier rechtsextreme Fangruppen im Fußball aktiv“, vermeldet DPA aktuell am 12. Februar dieses Jahres. “Im Zusammenhang mit dem 1. FC Lokomotive Leipzig wird die Gruppierung ’Scenario Lok’ mit etwa 70 Mitgliedern genannt. Bei Dynamo Dresden geht es um die ’Faust des Ostens’. ’Sie bestand zeitweise aus über 180 Mitgliedern. Die aktuelle Mitgliederzahl ist nicht bekannt’, hieß es. ’Hoonara’ und ’New Society’ (NS Boys) gehören zur Szene beim Chemnitzer FC. Auch hier wird das Potenzial auf 70 Leute beziffert.“

Wie weit darf die Verarschung der öffentlichen Wahrnehmung, auch bei einem per se unterstellt gutgemeinten Ansinnen (“Kampf gegen Rechtsextremismus“), durch eine landesbehördliche Institution mit bundesweiter Einbindung eigentlich von demokratischen Gremien unhinterfragt so schamlos billig plakativ betrieben werden? – Was an dieser bereits 2012 in den Raum gestellten Frage scheint größtenteils nach wie vor unverändert keine Aktualität mehr zu haben, und einen Anspruch auf Klärung darüber hinaus? Herr Innenminister Ulbig, übernehmen Sie!

[Dieser Artikel wurde am 12. Februar 2014 bei Ostfussball.com veröffentlicht.]